von Wolfgang Seemann
Goethe war, wie viele Dichter und Denker seiner Zeit, auch von fernöstlichem, besonders indischem Gedanken- und Kulturgut fasziniert und inspiriert
Das Thema Zwischen Himmel und Erde hat Goethes Denken und literarisches Schaffen beherrscht wie kein anderes. Goethe bezieht alle menschliche Existenz auf diese Dualität. So heißt es in der ersten Strophe des Gedichtes „Gesang der Geister über den Wassern“:
Des Menschen Seele
Gleicht dem Wasser:
Vom Himmel kommt es,
Zum Himmel steigt es,
Und wieder nieder
Zur Erde muss es, ewig wechselnd.

Diese Zeilen entstanden auf Goethes zweiter Schweizreise im Jahre 1779, Goethe war 30 Jahre alt und nach seinem Welterfolg Die Leiden des jungen Werther (1774) der wohl berühmteste deutsche Dichter seiner Zeit. Geboren 1749 in Frankfurt am Main als Sohn einer wohlhabenden Familie, lebte Johann Wolfgang von Goethe im Postkutschenzeitalter. Seine weiteste Reise führte ihn nach Italien, Indien kannte er nur aus Büchern.
Eines dieser Bücher, von dem man weiß, dass Goethe es gelesen hat, war das Buch von Pierre Sonnerat: Reise nach Ostindien und China, auf Befehl des Königs, unternommen vom Jahre 1774 bis 1781. Das Buch wurde vom Französischen ins Deutsche übersetzt, erschien 1783 und diente Goethe als Quelle für seine 15 Jahre später erschienene indische Legende (1798) Der Gott und die Bajadere, eine Art erzählendes Gedicht, von Germanisten auch als Ballade bezeichnet. Im deutschen Sprachgebrauch ist das Wort Bajadere unbekannt. Pierre Sonnerat schreibt dazu in seinem Buch: Surat (Stadt in Nordindien) ist wegen seiner Tänzerinnen bekannt, welche in der Landessprache Devadasi heißen, von den Europäern aber Bayaderen genannt werden, welches aus dem portugiesischen Balladeiras, Tänzerinnen, stammt. Diese Mädchen widmen sich ganz dem Dienste der Götter, daher sie auch in den Prozessionen vor den Bildern derselben tanzen und singen.

Goethes Gedicht bezieht auch eine Stelle aus dem Buch von Sonnerat mit ein. Es ist die Beschreibung der rituellen Witwenverbrennung, in Indien als Sati bezeichnet. Frauen, die gemeinsam mit der Leiche ihres Ehemannes bei lebendigem Leibe auf dem Scheiterhaufen verbrannten, wurden in hohen Ehren gehalten und teilweise göttlich verehrt.
Mahadev und die Bajadere
Vom Himmel zur Erde und von der Erde wieder zum Himmel, das ist der Bewegungsablauf in Goethes Ballade „ Der Gott und die Bajadere“. Mahadev, von Goethe etwas eigenwillig zu Mahadöh verfremdet, der „große Gott“ also, ein Beiname von Shiva, inkarniert zum sechsten Male auf der Erde:
„Mahadöh“, der Herr der Erde, kommt herab zum sechsten Male…
Sein Weg führt ihn in „der Liebe Haus“ zu einer Bajadere. Als der Mensch gewordene Gott nach einer Liebesnacht mit ihr stirbt, soll seine Leiche verbrannt werden. Die Tänzerin, die voller Verzweiflung den Tod ihres Geliebten beweint, will sich mit ihm verbrennen lassen, was ihr aber von den Priestern, den Brahmanen, verweigert wird mit dem Hinweis auf ihren Status als Prostituierte:
Lebst du doch als Bajadere, und so hast du keine Pflicht.
Die Ballade endet damit, dass sich die Tänzerin über alle gesellschaftlichen Konventionen hinweg setzt und sich in die Flammen stürzt. In diesem Augenblick erwacht Mahadev zum Leben: Der Götterjüngling hebet aus der Flamme sich empor, und in seinen Armen schwebet die Geliebte mit empor.
Hier könnte die Ballade zu Ende sein und der Leser die Botschaft mitnehmen, dass die Liebe ein göttliches Geschenk ist und in ihrer Reinheit und Wahrheit zur Erlösung führt. Es folgen aber noch drei Zeilen, die den Leser etwas verwirrt zurücklassen. Von reuigen Sündern und verlorenen Kindern, die von der Gottheit gerettet und erlöst, also zum Himmel empor getragen werden, ist hier plötzlich die Rede. Was hat die Bajadere Sündhaftes getan? Was muss sie bereuen, damit sie erlöst wird?

Es scheint, dass Goethe sich bei diesen letzten drei Zeilen von einem anderen Text hat inspirieren lassen, der von seiner Essenz nicht ganz in den Zusammenhang seiner indischen Legende passt, was auch vielen Germanisten aufgefallen ist, die sich mit dieser Ballade beschäftigt haben. Es handelt sich hierbei um die bekannte Textstelle:
Der Pharisäer und die Sünderin aus dem Lukasevangelium:
Einer der Pharisäer hatte ihn zum Essen eingeladen. Und er ging in das Haus des Pharisäers und begab sich zu Tisch. Und siehe, eine Frau, die in der Stadt lebte, eine Sünderin, erfuhr, dass er im Haus des Pharisäers zu Tisch war; da kam sie mit einem Alabastergefäß voll wohlriechendem Öl und trat von hinten an ihn heran zu seinen Füßen. Dabei weinte sie und begann mit ihren Tränen seine Füße zu benetzen. Sie trocknete seine Füße mit den Haaren ihres Hauptes, küsste sie und salbte sie mit dem Öl. Als der Pharisäer das sah, sagte er zu sich selbst: Wenn dieser wirklich ein Prophet wäre, müsste er wissen, was das für eine Frau ist, die ihn berührt: dass sie eine Sünderin ist.

Jesus scheint die Gedanken des Pharisäers erraten zu haben, wenn er abschließend sagt:
Siehst du diese Frau? Als ich in dein Haus kam, hast du mir kein Wasser für die Füße gegeben; sie aber hat meine Füße mit ihren Tränen benetzt und sie mit ihren Haaren abgetrocknet. Du hast mir keinen Kuss gegeben, sie aber hat, seit ich hier bin, unaufhörlich meine Füße geküsst. Du hast mir nicht das Haupt mit Öl gesalbt, sie aber hat mit Balsam meine Füße gesalbt. Deshalb sage ich dir: Ihr sind die vielen Sünden vergeben, weil sie geliebt hat.
Der Gott und die Bajadere
Indische Legende
von Johann Wolfgang von Goethe
Mahadöh, der Herr der Erde,
Kommt herab zum sechsten Mal,
Dass er unsers gleichen werde,
Mit zu fühlen Freud und Qual
Er bequemt sich hier zu wohnen,
Lässt sich alles selbst geschehn,
Soll er strafen oder schonen,
Muss er Menschen menschlich sehn.
Und hat er die Stadt sich als Wandrer betrachtet,
Die Großen belauert, auf Kleine geachtet,
Verlässt er sie abends um weiter zu gehn.
Als er nun hinausgegangen
Wo die letzten Häuser sind,
Sieht er, mit gemalten Wangen,
Ein verlornes schönes Kind:
Grüß dich Jungfrau! – dank der Ehre,
Wart, ich komme gleich hinaus –
Und wer bist du? – Bajadere!
Und dies ist der Liebe Haus.
Sie rührt sich die Zimbeln zum Tanze zu schlagen,
Sie weiß sich so lieblich im Kreise zu tragen,
Sie neigt sich und biegt sich und reicht ihm den Strauß.
Schmeichelnd zieht sie ihn zur Schwelle,
Lebhaft ihn ins Haus hinein.
Schöner Fremdling, lampenhelle
Soll sogleich die Hütte sein,
Bist du müd’, ich will dich laben,
Lindern deiner Füße Schmerz;
Was du willst das sollst du haben,
Ruhe, Freuden oder Scherz.
Sie lindert geschäftig geheuchelte Leiden,
Der Göttliche lächelt, er siehet, mit Freuden,
Durch tiefes Verderben ein menschliches Herz.
Und er fordert Sklavendienste
Immer heitrer wird sie nur,
Und des Mädchens frühe Künste
Werden nach und nach Natur.
Und so stellet nach der Blüte
Bald und bald die Frucht sich ein
Ist Gehorsam im Gemüte
Wird nicht fern die Liebe sein.
Aber sie schärfer und schärfer zu prüfen
Wählet der Kenner der Höhen und Tiefen
Lust und Entsetzen und grimmige Pein.
Und er küsst die bunten Wangen
Und sie fühlt der Liebe Qual,
Und das Mädchen steht gefangen,
Und sie weint zum ersten mal,
Sinkt zu seinen Füßen nieder
Nicht um Wollust noch Gewinnst,
Ach und die gelenken Glieder
Sie versagen allen Dienst.
Und so zu des Lagers vergnüglicher Feier,
Bereiten den dunklen behaglichen Schleier
Die nächtlichen Stunden das schönste Gespinst.
Spät entschlummert unter Scherzen,
Früh erwacht nach kurzer Rast,
Findet sie an ihrem Herzen
Tot den viel geliebten Gast,
Schreiend stürzt sie auf ihn nieder,
Aber nicht erweckt sie ihn,
Und man trägt die starren Glieder
Bald zur Flammengrube hin.
Sie höret die Priester, die Totengesänge
Sie raset und rennet und teilet die Menge.
Wer bist du? Was drängst du zur Grube dich hin?
Bei der Bahre stürzt sie nieder,
Ihr Geschrei durchdringt die Luft:
Meinen Gatten will ich wieder!
Und ich such ihn in der Gruft.
Soll zu Asche mir zerfallen
Dieser Glieder Götterpracht?
Mein! Er war es, mein vor allen!
Ach! Nur eine süße Nacht!
Es singen die Priester: Wir tragen die Alten,
Nach langem Ermatten und spätem Erkalten,
Wir tragen die Jugend, noch eh sie’s gedacht.
Höre deiner Priester Lehre:
Dieser war dein Gatte nicht,
Lebst du doch als Bajadere,
Und so hast du keine Pflicht.
Nur dem Körper folgt der Schatten
In das stille Totenreich
Nur die Gattin folgt dem Gatten
Das ist Pflicht und Ruhm zugleich.
Ertöne Trommete zu heiliger Klage
O! nehmet ihr Götter die Zierde der Tage,
O! nehmet den Jüngling in Flammen zu euch.
So das Chor, das ohn Erbarmen
Mehret ihres Herzens Not,
Und mit ausgestreckten Armen
Springt sie in den heißen Tod,
Doch der Götterjüngling hebet
Aus der Flamme sich empor,
Und in seinen Armen schwebet
Die Geliebte mit hervor.
Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder,
Unsterbliche heben verlorene Kinder
Mit feurigen Armen zum Himmel empor.
Die Ballade wurde an die aktuellen orthographischen Regeln angepasst von Wolfgang Seemann.
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Dieser Artikel ist erschienen im Yoga Vidya Journal – Ausgabe Nr. 39, S.30-33