Veranschaulichung der Vedanta-Lehre (Nyayas)

Auszug aus dem Buch Vedanta für Anfänger (auch als eBook)von Swami Sivananda – erschienen im Yoga Vidya Verlag: 

Die Philosophie der Vedanta lehrt man am besten durch praktische Beispiele aus dem täglichen Leben, denn sie ist abstrakt und für den begrenzten Intellekt nicht leicht zu verstehen.

Die Hauptaussage der Vedanta ist, dass nur Brahman existiert, die Welt der Erscheinungen nicht real ist und dass die individuelle Seele nichts anderes als Brahman selbst ist.

Diese seltsam anmutende Theorie kann von normalen Menschen mit geringer Auffassungsgabe, die in dieser relativen Welt der Unwissenheit gefangen sind, nicht verstanden werden.

Sie erhalten daher die Unterweisung in diese höchst erhabene Lehre durch für sie geeignete Veranschaulichungen, Beispiele. Dadurch können sie ihren Verstand allmählich aus mehreren Blickwinkeln auf die Realität ausrichten.

Abschnitt 1

1. Rajjusarpa-Nyaya

Im Dunkeln tritt ein Mann auf ein Seil, hält es aber irrtümlich für eine giftige Schlange, springt auf und schreit vor Angst. Sein Herz pocht. Aber wenn ihm ein Freund ein Licht reicht, so sieht er, dass es keine Schlange ist, sondern ein Seil. Sofort verschwindet seine Angst. Dies veranschaulicht die unwirkliche Natur der Welt als Überlagerung auf das höchste Brahman. Brahman ist die Realität und die Welt ist nur eine Projektion auf Brahman, so wie die Schlange eine Projektion auf das Seil ist.

2. Mrigatrishna-Nyaya

In der Wüste sieht ein Reisender am Mittag eine Fata Morgana, bestehend aus Wasser, Wiesen, Bäumen und schönen Häusern. Er glaubt an die Existenz des Gesehenen und läuft darauf zu. Aber je näher er der Oase kommt, desto mehr scheint sich der Ort von ihm zu entfernen. Um die Oase zu erreichen, verlässt er seinen ursprünglichen Pfad und wandert tiefer und tiefer in die Wüste hinein. Dann begreift er plötzlich seinen Fehler, für eine bloße Täuschung vom Weg abgekommen zu sein, und kann von nun an nie wieder von einer solchen Erscheinung getäuscht werden. Bezogen auf die Vedanta veranschaulicht diese Geschichte die trügerische Natur des Universums. Die individuelle Seele glaubt, im Universum durch den Genuss von Sinnesobjekten Freude zu erlangen. Erkennt die Seele nun durch Jnana, Wissen über das höchste Selbst, dass diese Welt gar nicht real ist und dass sie einen Fehler gemacht hat, den wahren Pfad der Vollkommenheit zu verlassen, so gibt sie den falschen Pfad auf und folgt dieser Täuschung eines Lebens voller Sinnesfreuden nicht länger. Die Welt ist nur eine Erscheinung so wie die Fata Morgana, die ein Effekt der Sonnenstrahlen ist.

3. Shuktirajata-Nyaya

Dieses Beispiel ähnelt ‘Akashanilima-Nyaya’ oder ‘Stambha-Nara-Nyaya’. All diese ähneln auch Rajjusarpa-Nyaya. Sie alle veranschaulichen die Projektion des Unwirklichen auf dem Wirklichen. Perlmutt wird mit reinem Silber verwechselt, der eigenschaftslose Himmel erscheint blau, der Pfosten wird nachts für einen Menschen gehalten. Das Wissen über das höchste Brahman – die Realität, folgt dem rechten Verstehen durch Unterscheidung, Geduld, Ausdauer, Entsagung und Meditation. Die Welt ist eine Erscheinung Brahmans, so wie der auf den Pfosten projizierte Mensch nur eine Erscheinung des Pfostens ist und das Silber im Perlmutt eine Erscheinung des Perlmutts darstellt.

4. Kanakakundala-Nyaya

Dies ähnelt ‘Mrittika-Ghata-Nyaya’ und der Analogie von Eisen und Werkzeug. Alle Ornamente werden aus dem gleichen Gold gefertigt, aber sie unter scheiden sich in der Form. In Wahrheit bestehen sie aus Gold. Es gibt viele Gefäßarten wie Krüge, Pötte, Kessel, kleine und große, runde und schmale, mit vielen Formen. Aber sie bestehen letztlich nur aus Ton. Viele Arten von Werkzeugen werden hergestellt, mit vielen Formen und Einsatzmöglichkeiten, aber alle bestehen in Wahrheit nur aus Eisen. Ihre Namen und Formen sind falsch, weil sie in Wahrheit nur die ursprüngliche Substanz sind, nämlich Gold, Ton oder Eisen. Dies soll veranschaulichen, dass die vielen Namen, Formen und Inhalte dieser Welt einfach falsch sind, weil sie ihrer Wesenheit nach alle nur Brahman sind. Nur Brahman erscheint uns in den vielen Namen und Formen.

5. Samudrataranga-Nyaya

Im weiten Ozean sind zahllose Wellen. Jede Welle ist von den anderen verschieden und kann separat wahrgenommen werden. Aber sie alle sind nur Wasser and vom großen Ozean nicht zu trennen. In der Realität sind sie alle eins. Die Unterschiede existieren nur scheinbar. Dies soll zeigen, dass alle individuellen Seelen, auch wenn sie anscheinend getrennt voneinander existieren, in Wahrheit der eine Ozean aus Satchidananada (Sein, Wissen, Wonne) und mit ihm identisch sind. Es gibt weder Unterschiede noch Vielfalt.

6. Sphatikavarna-Nyaya

Dies ist das Gleichnis von den Farben im Kristall. Der Sphatika (Kristall) ist rein und hat keine eigene Farbe. Aber wenn ein farbiges Objekt in seiner Nähe ist, reflektiert er dessen Farbe und scheint diese Farbe tatsächlich zu haben, sei es Blau, Rot oder was auch immer. Auf dieselbe Weise ist Brahman oder Atman farblos, makellos und eigenschaftslos, aber die Upadhis, die begrenzenden Eigenschaften, lassen Brahman als ein Phänomen voller unterschiedlicher Eigenschaften, Namen und Formen erscheinen.

7. Padmapatra-Nyaya

Dies ist das Gleichnis vom Lotusblatt und dem Wasser. Regenwasser perlt vom Lotusblatt ab. Das Wasser haftet nicht an dem Blatt. Auf gleiche Weise ist Atman bzw. Brahman makellos, auch wenn zahllose Welten innerhalb von Brahman existieren und zahllose Wesen von Brahman in die Welt eingebracht worden sind.

8. Vatagandha-Nyaya

Der Wind trägt jeden Duft und verbreitet ihn überall hin. Aber die Luft selbst ist rein und weder durch schlechte Gerüche verunreinigt noch durch angenehme Gerüche angereichert. Dieser Vergleich ähnelt obigem Gleichnis vom Lotusblatt und dem Wasser, um zu verdeutlichen, dass Atman bzw. Brahman unverhaftet sind, auch wenn viele Namen, Formen und Taten in der phänomenalen Welt erscheinen.

9. Urnanabhi-Nyaya

Die Spinne erzeugt im Mund die Fäden, um ihr Netz zu spinnen und zieht diese wieder in ihren Mund zurück. Aber das Netz ist nichts als der Körper selbst und ist eins mit ihm. Genauso ist diese Welt von Brahman hervorgebracht und projiziert und wird von ihm eines Tages wieder aufgelöst. Die Welt ist nichts außer das Wesen Brahmans. Dies zeigt, dass nur Brahman real ist.

10. Surya-Bimba-Nyaya

Die Welt wird durch eine einzige Sonne erhellt. Durch Reflektionen in Teichen, Becken, Flüssen, Spiegeln etc. kann der Eindruck entstehen, dass es viele Sonnen gibt. Die Sonne wird in allen Gewässern gespiegelt, aber es gibt in Wahrheit nur eine Sonne. Es gibt auch nur ein höchstes absolutes Sein, das unendliche Brahman, aber diese eine Realität wird durch die Upadhis (Verhüllung) der Maya und Avidya (Unwissenheit) als verschiedene Welten und individuelle Seelen reflektiert. Das ist falsch, weil es nur Reflektionen, Spiegelungen, sind. In Wahrheit ist alles eins.

11. Ghatakasa-Nyaya

Es gibt das Gleichnis vom Raum in einem Glas. Auf der einen Seite gibt es den Raum, der das ganze Universum ausfüllt. Und da ist der gleiche Raum innerhalb eines Glases. Aber der Raum in dem Glas kann vom restlichen Raum unterschieden werden, weil er durch das Glas abgegrenzt ist. Der Raum im Glas ist durch das Glas in keinster Weise verändert. Sollte das Glas zerbrechen, so vereinigt sich der Raum wieder mit dem großen Raum, ohne sich in der Zwischenzeit verändert zu haben. Genauso ist der Atman (höheres Selbst) im Individuum durch Geist und Körper begrenzt, aber in Wirklichkeit eins mit dem Paramatman, der höchsten Seele. Wenn der Körper zerfällt und der Geist sich auflöst, wird der Atman wieder eins mit dem höchsten Brahman, ohne sich vorher von der Begrenzung durch den Geist oder durch den Körper auch nur im geringsten verändert zu haben.

12. Bhramara-Kita-Nyaya

Man sagt über die Wespe, dass sie die Insekten, die sie zu ihrem Wespennest bringt, mit ihrem Stich derart vergiftet, dass die Insekten zu jeder Zeit nur noch die Anwesenheit der Wespe wahrnehmen. Man könnte sagen, die Insekten meditieren über die Anwesenheit der Wespe und werden dadurch sozusagen selbst zu Wespen. Dies soll zeigen, dass durch Meditation über das Mantra „Aham Brahma Asmi oder „Ich bin Brahman“ die individuelle Seele letztlich zu Brahman selbst wird.

13. Dagdhapata-Nyaya

Dies ist das Gleichnis vom verbrannten Stück Stoff. Wenn Stoff verbrannt ist, hat er seine Form nicht verändert. Aber durch die leichteste Berührung mit der Hand zerfällt er zu Staub. So ist auch der Körper des Jnani oder Jivanmukta (im Körper Befreiter) beschaffen. Er besitzt keinen Körper, sondern es verhält sich wie mit dem verbrannten Stück Stoff. Die Form erscheint uns zwar, aber sie ist nicht real. Der Körper wurde durch das Feuer der Weisheit verbrannt und es ist kein Ego da, um ihn zu erhalten. Der Jnani ist frei von weltlichen Makeln. Er macht den Eindruck, einen Körper zu haben und erlangt Sadyo-Mukti (sofortige Befreiung) oder Kaivalya-Mukti (individuelle Befreiung).

14. Arundhati-Nyaya

Um jemandem den Stern Arundhati am Himmel zu zeigen, weist man zuerst zu einem großen, besser erkennbaren Stern in dessen Nähe und behauptet, dies wäre bereits Arundhati. Dann wird diese Behauptung zurückgenommen und der tatsächliche Stern in dessen Nähe gezeigt. So erhält auch der spirituelle Aspirant zuerst äußere Methoden durch Dienst und Anbetung von göttlichen Formen, um sich der Realität anzunähern. Danach wird er schrittweise zur höchsten Wahrheit geführt, die formlos und unpersönlich ist.

15. Bija-Vriksha-Nyaya

Der Samen ist die Ursache für den Baum und der Baum ist die Ursache für den Samen. Niemand kann sagen, was die letzte Ursache von wem ist. Dies soll zeigen, dass jede Frage und jedes Argument eine Gegenfrage und ein Gegenargument mit sich bringen. Jedes „dies hier“ ist auch ein „das dort“. Die ganze Welt unterliegt der Relativität. Die letzte Wahrheit ist die Stille, die Dakshinamurti (Shiva-Aspekt als Lehrer des Jnana) lehrte.

16. Markata-Kishora-Nyaya

Das Affenbaby ergreift aktiv die Brust seiner Mutter und verweilt dort auch in Zeiten höchster Gefahr. Es verlässt sich für die eigene Sicherheit nicht passiv auf die Mutter, sondern kämpft für sich selbst. Dies verdeutlicht den Weg des Aspiranten auf dem Pfad des Jnana-Sadhana. Er verlässt sich nicht auf äußere Hilfe oder Gnade für seine Befreiung, sondern bemüht sich selbst und erreicht das Wissen um das Selbst.

17. Ashma-Loshta-Nyaya

Dies ist das Gleichnis von Stein und Lehm. Verglichen mit Wolle ist Lehm sehr hart, aber verglichen mit Stein ist er weich. Dies zeigt, dass Dinge im Vergleich zu besseren Dingen schlecht erscheinen mögen. Oder sie erscheinen gut, verglichen mit