Yoga und Pilgern – Die Seele geht zu Fuß

Eine Wallfahrt ist eine Reise, um ein heiliges Gebot zu erfüllen oder um eine bestimmte Pilgerstätte mit spiritueller Bedeutung aufzusuchen. Pilgerreisen erfreuen sich in der jüngsten Vergangenheit zunehmender Beliebtheit.

Die Pilgerreise als spirituelle Reise

„Von anderen Pilgern* habe ich gehört…“

Die Wissens- und Erfahrungsweitergabe funktioniert hier meist ganz altmodisch über das gesprochene Wort von Angesicht zu Angesicht. Sicherlich gibt es auch Blogs, Erzählungen, Reiseführer… doch ob die Unterkunft am nächsten Tag gut ist oder nicht, offen hat oder belegt ist, erfährst du nur direkt vor Ort von anderen Pilgern.

Von anderen Pilgern habe ich gehört, dass beim Pilgern auf dem spanischen Jakobsweg nach dem Grund der Pilgerreise gefragt, immer „spirituell“ geantwortet werden sollte – eventuell gibt es sonst keinen Anspruch auf den Übernachtungsplatz oder es muss mehr bezahlt werden. Nicht alles, was andere Pilger erzahlen, ist wahr…

Doch bei fast allen Pilgern, die ich getroffen habe, stellte sich ihre Pilgerreise als spirituelle Reise heraus. Die Besonderheit daran ist ganz einfach: es ist das tägliche Gehen. Stundenlang. Mal allein, mal in der Gruppe, mal durch unwegsames Gelände, mal über die Strasen einer Großstadt. Es ist Meditation. Es ist Gebet. Es ist Yoga. Ähnlich wie auch Yoga über alle religiösen „Begrenzungen“ gelebt und praktiziert werden kann, erfahrt auch der Pilgerreisende Spiritualität jenseits von Religion. Wenn auch in Europa vor allem die christlichen Pilgerreisen bekannt sind, so sind sie doch in vielen Religionen und Kulturen religiöser und spiritueller Bestandteil: beispielsweise die alljährliche Pilgerreise nach Mekka im Islam, die jeder Muslim einmal im Leben gemacht haben soll, sofern die Möglichkeit besteht. Swami Sivananda selbst war Pilgermönch! Gott zu erfahren beim Sitzen vor einem Bildschirm, mag schwer sein. Gott zu erfahren bei tagelangem Gehen – jeden Schritt mit den eigenen Füßen-, ist einfach. Es passiert von selbst. Es gibt dafür nichts zu tun.

Das ist Yoga: nicht die Asanas (Körperübungen). Es ist Bhakti – die pure Hingabe. Es ist Raja Yoga (Yoga der Geisteskontrolle). Selten ist der Geist so still wie nach tagelangem Gehen.

Mit Herz und Fuß

Und so sind es die Füße, die einen tragen, und die Seele, die einen leitet. Der Reisende begibt sich in Gottes Hände. Er lernt, dass es so etwas wie Sicherheit nur begrenzt gibt. Es ist die Erfahrung, dass das Leben auch ohne Netz und doppelten Boden funktioniert – vielleicht sogar besser: denn der Gewinn ist die Freiheit. Es braucht keine Angst mehr, wenn der Reisende das akzeptiert.

Bhakti zeigt sich auch daran, dass es nicht darum geht, etwas zu wollen oder nicht zu wollen – der Weg ist so lang und sieht so aus, wie er ist. Es geht darum, genau dieses anzunehmen, „Ja“ zu sagen zu dem, was ist, auch wenn es nicht dem eigenen Mögen, dem Raga, entspricht und sich in Akzeptanz und Geduld zu üben. Ohnehin sind Vertrauen, Geduld und Zuversicht die wichtigsten Begleiter auf einer solchen Reise, gerade dann wenn etwas nicht so ist, wie erhofft: der Weg langer ist, das Wasser ausgeht, die Unterkunft geschlossen oder bereits voll ist… Und Umwege! Es bleibt nicht bei einem Umweg und manchmal hilft sogar nur umkehren, beim Pilgern, beim Yoga, auf dem ganzen spirituellen Weg! Neben dem lauten Singen auf menschenverlassenen Wegen fehlt es nicht selten an Möglichkeiten, Bhakti auszudrucken. Denn bis auf das aus Konfirmationszeiten eher ungeliebte „Vater Unser“ fehlt es schnell an einem Gebet – vor allem wenn das universelle Gebet von Swami Sivananda noch unbekannt ist. Es ist ein Ringen nach Worten für all das Unglaubliche, das sich vielleicht schon hinter der nächsten Wegbiegung offenbart, das wunderbare Geschenk des Gehens, die tiefe Dankbarkeit im Herzen. Schnell wird klar, dass eigentlich jeder Schritt ein Gebet ist. So wird jeder Schritt zu einem Dank und einer Bitte. Und jede Bitte enthält den kommenden Dank. Und jeder Dank und jede Bitte sind ein Geschenk und ein Abschied zugleich. Denn alles, was zahlt, ist immer nur der nächste Schritt. Das ist Meditation.

Pilgern für die Asanapraxis

Mit Yoga wird oft begonnen, weil körperliche Beschwerden auftauchen, der Rucken schmerzt oder sich Stresssymptome zeigen. Yoga hilft. Gehen hilft. Vielleicht wird der Rucken nie mehr so, wie er mal war. Und doch verändert sich was. Etwas darf heilen – beim Gehen und beim Yoga. Der Gehende merkt irgendwann, dass es zwei Arten von Schmerzen gibt, die durchwandert werden wollen: die körperlichen und die seelischen. Er lernt dabei, dass die körperlichen Schmerzen einfacher zu ertragen sind. Und so geht es Schicht für Schicht, Hülle für Hülle, Körper, Geist und Seele. Und doch lehrt dieser Weg so gut, wo die eigenen Grenzen sind – nicht die Grenzen derjenigen, die vor einem gehen und auch nicht derjenigen, die morgens als erste starten oder die zuerst in der Unterkunft sind. Es ist immer nur das eigene Tempo, die eigene Zeit und es sind die eigenen Grenzen.

Wie oft hörst du von deinem Yogalehrer: „Achte auf deine Grenzen?“ Gelingt es dir? Beachtest du sie? Gehe! Und du wirst nicht anders können, als auf deine Grenzen zu achten und dann bringe dies zuruck in deine Asanapraxis!

Die Krise

Und dann gibt es da auch Momente der Verzweiflung, der Krise, wo es nicht weiter zu gehen scheint. Dann braucht es vielleicht mal eine Hand, eine Melodie, Dinge die sich, ohne zu wissen wie, zum Guten fugen, einen Begleiter, einen Lehrer, einen Freund für einen Tag und mit besonderer Dankbarkeit vielleicht auch ein Bote. Der Yogaweg und der Pilgerweg sind sich da nicht unähnlich. Und wenn niemand da ist, bleibt doch nur eins: weitergehen. Doch immer wieder gibt es Wegmarken, eine Geste, ein Wort. Vielleicht erreichst du eine Kirche. Auch wenn es nicht deine Religion ist, so steht sie doch für unzählige Menschen, die in dieser Kirche bereits Schutz gesucht haben. Nun gewahrt auch dir diese Kirche Obdach. Unabhängig davon, ob es nun ein Lied, eine Kirche, ein Gebet, ein Freund war – die Verzweiflung geht und du erkennst: da ist – ob geplant, gedacht, erhofft, befurchtet – immer wieder ein neuer Morgen!

Auf dem Weg zum Ziel

Der Pilgerreisende hat nicht viel mit. Er lebt sehr einfach, sehr spartanisch. Er gibt, was er hat, und nimmt, was er bekommt. Es gibt fast nichts, um sich zu verkleiden, nichts, um eine Rolle zu spielen. Er ist nur er selbst. Der Reisende lernt, dass jedes Gramm zu viel eine Belastung ist. Wie wenig es im Leben braucht, um glücklich zu sein!

Beim Pilgern und beim Yoga erlebst du, dass es nicht das Ziel ist, das zahlt. Es ist allein der Weg, auch wenn es das Ziel ist, dass dich zum Gehen und zum Yoga veranlasst hat! Und so geht es einfach immer weiter, Schritt für Schritt.

Von anderen Pilgern habe ich oft gehort:

Buen Camino – guten Weg!

* Es sind stets Personen aller Geschlechter gleichermaßen gemeint; wenn eine geschlechtsneutrale Beschreibung nicht möglich erschien, wurde aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit die männliche Form verwendet.

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Anjali Gundert ist Yogalehrerin (BYV), Soziologin M.A. Erfahrungen als Seminarleiterin hat Anjali bereits an der Universität und im Jugendverband gesammelt. Mit Achtsamkeit und Einfühlungsvermögen holt sie die Teilnehmenden dort ab, wo sie stehen. Dies prägt auch ihren Unterrichtsstil. Anjali ist im Ausbildungsrat und im Hauptunterrichtenden Team tätig.

 

Dieser Artikel ist erschienen im Yoga Vidya Journal – Ausgabe Nr. 36.

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