Yoga der drei Energien

Dirk
Von Dirk
Lesezeit: 16 Min

Im Yoga sowie im System des Vedanta spricht man von den Gunas, den drei Energien oder auch ‚Qualitäten‘, genannt Sattva, Rajas und Tamas. Dabei handelt es sich um drei Aspekte des relativen Seins, denen unterschiedliche Eigenschaften und Auswirkungen zugeschrieben werden. Diese sind:

  • Sattva steht u.a. für Reinheit, Wissen, Klarheit, Freude, Licht, Enthüllung
  • Rajas steht u.a. für Aktivität, Unruhe, Leidenschaft, Ärger, Projektion
  • Tamas steht u.a. für Trägheit, Unwissenheit, Müdigkeit, Dunkelheit, Verhüllung

Die drei Gunas beeinflussen – in wechselndem, unterschiedlichem Verhältnis zueinander stehend – alle materiellen und feinstofflichen Prozesse, also auch Gedanken und Gefühle. Ihre Auswirkungen sind sichtbar sowie unsichtbar, für den Menschen bekannt als auch unbekannt.

Yoga der drei Energien

Der amerikanische Vedanta-Lehrer James Swartz, ehemaliger Assistent von Swami Chinmayananda und Schüler von Swami Dayananda, schreibt in seinem im Yoga Vidya Verlag neu erschienenen Buch Yoga der drei Energien:

Der materielle Teil der Wirklichkeit wird von drei Energien (śaktis) kontrolliert. Diese drei Energien werden guṇas genannt, ein Sanskrit-Wort; es bedeutet „Eigenschaften/Attribute“, aber auch „Stricke“. Aus makrokosmischer Sicht sind diese drei Energien Attribute oder Eigenschaften, die in allem zu finden sind, aber wenn wir den Mikrokosmos in Betracht ziehen, sind es Stricke, die uns fest an unsere materielle Seite binden. Alle drei Energien sind notwendig und nützlich, denn sie definieren uns vollständig als Lebewesen, aber jede von ihnen kann uns auch Probleme verursachen.

Wenn wir von unserer spirituellen Natur nichts wissen, dem immer freien Bewusstsein, sind wir besonders anfällig für die Schattenseiten jeder Energie. Der feinstoffliche Körper, unser primäres Instrument, steht vollständig unter dem Einfluss dieser drei Kräfte, bis wir ihn befreien. Wir können keinen Erfolg haben, wenn wir diese drei Kräfte und die Techniken, die sie transformieren, nicht verstehen.

Erfolg in allen Bereichen, ob weltlich oder spirituell, hängt von dem relativen Anteil der einzelnen Energien ab, bezogen auf die zu irgendeinem Zeitpunkt im Geist eines Individuums und seinem Umfeld vorherrschende Energie.

Vielleicht erscheint das zunächst sehr abstrakt, doch James Swartz widmet sich in seinem Buch schwerpunktmäßig dieser Thematik und erläutert viele praktische Zusammenhänge, deren Verständnis dabei hilft, ein harmonisches, authentisches und zielgerichtetes Leben zu führen. Ein Leben mit dem Zweck, sich selbst und seine essenzielle Natur zu ergründen und diese zu erkennen; und weiterhin die Bedingungen und Abläufe in der Welt zu verstehen, die Interaktion mit Menschen und andere Ereignisse friedlich zu gestalten sowie zum Wohlergehen von Gemeinschaft und Individuum zu handeln. Der Yoga der drei Energien ist keine geheime Praxis, sondern die Entwicklung des Verständnisses der drei Gunas und deren Wirkungsweise, sinnvoll angewendet auf mein Leben und meine persönlichen Ziele.

Weder gut noch schlecht

Die Gunas, die drei Energien als solche, sind weder gut noch schlecht. Alle Prozesse des Lebens, kosmische Gesetzmäßigkeiten und die Natur dieses Planeten sind von den Gunas bzw. deren Zusammenwirken beeinflusst. So what?

Tamas ist sozusagen eine Energie der Dunkelheit und Schwere. Sie lässt Körper und Geist träge sein. Unwissenheit, ein Mangel an Motivation, Angst und Müdigkeit sind Zustände, die auf die Wirkung von Tamas zurückzuführen sind. Tamas fördert auch die Bereitschaft zum Schlaf und ermöglicht diesen Zustand erst. Dabei handelt es sich immer auch um ein geordnetes Zusammenspiel der drei Energien. Weniger/kaum Sonnenlicht auf einer Erdhälfte mindert lokal die Rajas-Energie und führt zu einem Übermaß an Tamas-Energie, mit dem sich viele Lebewesen zum Zwecke der Regeneration synchronisieren.

Die geordnete wechselseitige und natürliche Beziehung von Mikro- und Makrokosmos ist ein immanentes Feature der Schöpfung. Das gemeinsame Verhältnis von Individuum und Kosmos ist unabdingbar. Das wird durch ein tieferes Verständnis der Gunas und deren Wirkungsweise ziemlich deutlich.

Rajas steht in Zusammenhang mit Unruhe, Aktivität, Verlangen und Wut. Wenn ich von der Aussicht auf einen bestimmten Erfolg motiviert bin, so hilft Rajas, die Erfüllung meines Verlangens zielgerichtet in die Tat umzusetzen. Doch Rajas im wörtlichen Sinne bedeutet auch ‚Staub‘ oder ‚Nebel‘. Ein innerer Drang zur Aktivität kann gleichfalls meine Weitsicht oder Unterscheidungsfähigkeit ‚vernebeln‘. Aufgrund von Rajas ist der Mensch aber überhaupt erst handlungsfähig und motiviert.

Sattva und ein sattviger Zustand stehen u.a. für Freude, Wissen und rechtschaffenes Verhalten. Anderen Lebewesen nicht schaden zu wollen, ist ein sattviges Motiv. Hilfsbereitschaft, Verständnis und angemessene Selbstreflexion sind Begleiterscheinungen von Sattva.

Als Mensch fange ich vielleicht an, mich irgendwann zu fragen: „Was ist das Ziel des Lebens? Was ist der Sinn und Zweck des Ganzen?“, oder „Was ist die Ursache allen Seins?“, oder „Was steckt hinter meinen Erfahrungen? Warum erfahre ich genau das, was ich erfahre und wie ich es erfahre?“. Die konstruktive Beantwortung solcher Fragen mit einem guten Maß an geistiger Offenheit und Wissensdurst wird durch Sattva begünstigt.

Innen und außen

Die Gunas beeinflussen den Menschen von außerhalb, sie sind Teil seiner äußeren Umstände. Aber auch von sich aus unterliegt der Mensch dem Einfluss der Gunas. Seine Aufnahmefähigkeit, seine Wahrnehmung und die Interpretation von Informationen werden durch die Gunas modifiziert bzw. mehr oder weniger ‚gefärbt‘. Von daher kann eine Analyse der äußeren Umstände sowie die der eigenen Konstitution mit Bezug auf die Gunas sehr aufschlussreich sein und Licht in die Dunkelheit bringen.

Befinde ich mich dauerhaft in einem sehr lauten, sehr aktiven Umfeld – beispielsweise in einer Anstellung als Lehrer in einer schwierigen Schulsituation, bin also häufig in eine sehr unruhige ‚rajasige Umgebung‘ versetzt, so wird das einen direkten Einfluss auf meinen Gemütszustand und meine Gesundheit haben. Vielleicht werde ich mich daher häufiger unausgeglichen fühlen, geistige Unruhe verspüren, zu wütenden Emotionen neigen und versuchen, Stress durch die Befriedigung von allerlei Gelüsten zu kompensieren. Die Unruhe von Körper, Geist und Emotionen ist dann eine Folge unruhiger äußerer Umstände, die der Dominanz von Rajas geschuldet sind. Ist hingegen meine Psychologie von sich aus in einem übermäßig rajasigen Zustand – vielleicht weil es zwei Tassen vom starken Kaffee zuviel waren, dann ist es für mich äußerst schwierig, in einer eigentlich ruhigen Situation, beispielsweise beim Lesen eines Buches oder auch bei der Meditation, innerlich gelassen, ruhig und konzentriert zu bleiben. Wenn rajasige Energie bzw. deren Auswirkung auf mich in meinem subtilen Körper vorherrscht, dann erfahre ich dadurch Unruhe, emotionale Sprunghaftigkeit, neige eher zum Ärger, fälle vermehrt negative Urteile über andere Menschen, usw.

Die Gunas wirken also auf uns, in uns und durch uns. Und genau dieses Wissen können wir im Speziellen anwenden, um das persönliche Leben in Balance zu bringen bzw. in Balance zu halten.

Das folgende Gleichnis (durch das auch der Prozess der Schöpfung bzw. das Göttliche als Einheit von Bewusstsein-Energie-Materie symbolisiert wird) kann ein sinnvolles Zusammenspiel der drei Gunas verdeutlichen:

Ein Töpfer hat die Idee, einen Tontopf herzustellen. Er hat alles dafür notwendige Wissen und die Kenntnis, mit welchen Mitteln und wie genau er einen Topf aus Ton herstellen kann. Das ist Sattva – das [Potenzial an] Wissen. Nun macht er sich auf und tritt in Aktion. Er nimmt das Material für den Topf, dreht die Töpferscheibe, gestaltet den Ton zur Form, usw. Das ist Rajas – Energie/Aktivität. Für den Tontopf benötigt es aber das Material – die Erde, den Ton. Diese Materie symbolisiert den dritten Guna im Bunde: Tamas – das Feste, das Unbewegliche, das Schwere im Verhältnis zur geistigen Kapazität (Sattva) des Töpfers und der Energie in Form der Umsetzung/Handlung (Rajas). Fehlte es an einem der drei Grundprinzipien – Sattva, Rajas oder Tamas –, wäre die Herstellung des Tontopfes ein Ding der Unmöglichkeit.

Eisen, Silber und Gold

Den drei Gunas wird darüberhinaus aber auch und insbesondere ein Aspekt der Bindung zugeschrieben, was bedeutet, dass der Mensch durch die Gunas in seinen Handlungen und Erfahrungen eingeschränkt bzw. durch die Gunas gelenkt wird und daher nur bedingt frei in seiner Entscheidung ist. Auch kann sich der Mensch an die Eigenheiten eines Gunas verhaften, also sich daran binden bzw. dadurch gebunden sein. So können z.B. Abhängigkeit und Sucht (Tamas), Ehrgeiz oder Leidenschaft (Rajas) oder das Bedürfnis nach Reinheit und Wissen (Sattva) den Menschen in seiner Entwicklung hindern, wenn diese einer gesunden Flexibilität und einem angemessenem Verhalten im Wege stehen.

Tamas wird als eine eiserne Kette (auch Fessel oder Seil) angesehen, die uns bindet, da von Tamas stark beeinflusste Erfahrungen sehr schmerzhaft und leidvoll sind. Rajas wird als silberne Kette gedeutet, da rajasige Erfahrungen einen gewissen Wert haben und auch zum Fortschritt verhelfen. Sattva ist die goldene Fessel, weil sattvige Erfahrungen sehr freudevoll und grundsätzlich ethisch verantwortbar sind, eine starre Verhaftung daran aber gleichzeitig zur Vermeidung oder Ablehnung notwendiger Erfordernisse und Umstände führen kann. Beispiel: Da ich es liebe, so viel wie möglich zu meditieren und meine Ruhe zu haben, entscheide ich mich dagegen, mich um meinen Nachbarn, der in diesem Moment dringend meine Hilfe bräuchte, zu kümmern. Hier kollidiert mein starkes Interesse an sattvigen Erfahrungen mit meiner situativen Verantwortung. (Man könnte hier noch Dharma(s) erläutern sowie Karma-Yoga, aber belassen wir es im Moment dabei)

Guṇa-Wissen funktioniert mit jedem Aspekt deines Lebens, denn jeder Aspekt des Lebens besteht aus den drei guṇas.

Letztlich gilt es zu verstehen, dass das Selbst – das Bewusstsein, das ich bin–, unabhängig von den Gunas ist und nicht durch sie beinflusst werden kann. So leide nicht ICH (Bewusstsein), wenn ‚ich‘ (das Körper-Geist-Gefühls-Wesen, im Vedanta auch Jiva genannt) eine Erfahrung mache, die nicht den persönlichen Wünschen oder Vorlieben entspricht. Ein vormals scheinbares Problem ist kein Problem, wenn ich weiß, dass ich absolut gesehen frei bin von den Wirkungen der inneren und äußeren Umstände – sprich dem Zusammenspiel der drei Gunas, selbst wenn diese fortwährend auf bzw. durch die Person, die ich zu sein scheine, wirken. Klingt leichter gesagt als getan? Mithilfe eines engagierten Studiums der Vedanta-Lehre sowie der Karma-Yoga-Praxis und Upasana-Yoga (sich der Lehre über die Freiheit des eigenen Wesens widmen, diese kontemplieren und das Wissen ganzheitlich assimilieren) ist genau dies das erwünschte Resultat: Wissen in Form einer Erfahrung der Freiheit von der Relativität des Seins.

Warum also nicht einfach die ganze guṇa-Angelegenheit überspringen und direkt zur Nichtdualität übergehen? Weil das nicht möglich ist, wenn dein Intellekt überwiegend tamasig oder rajasig ist. Du musst also dein Leben so gestalten, dass sich dein Intellekt vom Körper-Geist-Sinne-Komplex löst und sich in Form von nichtdualem Wissen mit dem Selbst verbindet. Der Intellekt ist dein wertvollstes Werkzeug, aber wenn er den ganzen Tag damit beschäftigt ist, samsarische Probleme ohne karma-yoga zu lösen, wird er stumpf, wie ein Messer, mit dem hartes Holz geschnitten wurde.

Theorie und Praxis

Das Konzept des Zusammenspiels der Gunas ist ein Mittel, das zum Verständnis der Prozesse des Lebens, mitsamt allen menschlichen Erfahrungen auf allen Ebenen, beitragen kann. Vielleicht bist du immer noch nicht überzeugt, dass das Wissen relevant genug ist, um sich damit eingehender zu beschäftigen, oder aufgrund von Vorerfahrung, z.B. einer Yogalehrerausbildung, sind dir die Grundlagen der Guna-Theorie bereits bekannt, und du denkst, das wäre bloß ein alter Hut. Aber James Swartz geht in seinem Buch in die Tiefe und Weite des Themas und vermittelt sein Wissen, das er in Jahrzehnten des Studiums der Vedanta-Lehre und durch seinen beeindruckenden Lebenswandel erhalten hat. Ein Blick in das Buch und die Beherzigung der darin erklärten Zusammenhänge im Alltag können dein Leben auf positive Weise stärken und verändern. Mögliche Folgen können sein: Geistige und emotionale Klarheit, Vertrauen in das Leben, die Harmonisierung deiner Lebensumstände und last but not least die Beantwortung dringender Fragen nach dem Sinn und Zweck deines Daseins – die Kenntnis deiner wahren Identität.

Der Yoga der drei Energien (Triguna Vibhava Yoga) ist keine irgendwie magisch anmutende Energiearbeit, kein extraordinäres Tamtam, kein spirituelles Konzept, das ins Leere zielt. Der Yoga der drei Energien vermittelt ein objektives und konkretes Verständnis, das es aus menschlicher Perspektive zu erlernen gilt. Der Yoga der drei Energien ist die befriedende Umsetzung der Erkenntnisse, die aus der Analyse von Ursachen und Wirkungen gewonnen werden, mit Bezug auf die Beziehungen von Individuum, Welt, Gott und Absolutem Sein.

Das Wissen über die drei Energien, die Gunas, ist ein Verstehen der relativen Prozesse. Es unterstützt den Menschen dabei, in Frieden mit sich und der Welt, mit Gott und dem Leben zu sein. So gesehen beschäftigt es sich – aus vedantischer Sicht – mit den Bedingungen und Wechselwirkungen einer Schein-Realität, die manchmal auch mit dem Wort Maya (Täuschung, Trugbild) bezeichnet wird. Es ist Wissen, das dabei hilft, den Traum des Lebens friedlich zu gestalten. Der Yoga der drei Energien ist Mittel zum Zweck, sich frei und klar auf sich Selbst – sowohl im relativen als auch im absoluten – zu besinnen.

Viel Freude & Inspiration!
Om Shanti

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1 Kommentar
  • Super erhellender – sattwiger – Beitrag. Werde es gleich in der nächsten Unterrichtsstunde einbringen. Und Teilnehmer:innen können durch die Yogapraxis erfahren und diese Energien wandeln.

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