Die Brihadaranyaka Upanishad ist bei weitem die längste der klassischen Upanishaden und enthält Anleitungen für Rituale, Gedichte und verschiedene Geschichten.
Brihadaranyaka Upanishad heißt wörtlich so viel wie „die große zum Wald zugehörende Upanishade“, was auf ihren schieren Umfang zurückzuführen ist. In ihr findet man alles, was es in den Upanishaden zu finden gibt, so wie ein Mensch in einem großen Wald alles finden kann, was er zum Leben braucht.
Yajnavalkya, welcher als Verfasser mehrerer vedischen Schriften gilt, wird auch die Brihadaranyaka zugeschrieben. Er nimmt in ihr die Hauptrolle ein und ist ein ungewöhnlich humorvoller Rishi, aber auch sehr direkt, wenn es um das Wesentliche geht. Seine Lehre geht immer wieder auf die eine Aussage zurück: Hinter allem und in allem ist das eine, unendliche, ewige Selbst.
Einführendes Mantra zur Brihadaranyaka Upanishad
Die Brihadaranyaka Upanishad wird mit dem Purnamadah-Mantra eingeleitet, eine der bekanntesten Strophen aus den Veden, die auch bei Yoga Vidya zweimal täglich im Satsang gesungen wird.
Das Purnamadah-Mantra ist ein Friedensmantra, das die Allgegenwärtigkeit und Transzendenz Brahmans versucht in Worten auszudrücken. Dabei fasst es die Nachricht, die uns die Upanishaden vermitteln möchten, vollständig in sich zusammen. Es ist die Kernaussage des Vedanta.
oṁ pūrṇam adah pūrṇam idam | OM Jenes ist vollkommen, dieses ist vollkommen.
pūrṇāt pūrṇam udacyate | Aus der Vollkommenheit wird Vollkommenheit geboren.
pūrṇasya pūrṇam ādāya | Wenn man der Vollkommenheit die Vollkommenheit entzieht,
pūrṇam evāvasisyate | verbleibt Vollkommenheit.
oṁ śāntiḥ śāntiḥ śāntiḥ || OM Frieden, Frieden, Frieden.
Jenes, also das, woraus die Welt entsteht, ist vollkommen, unendlich und ganz. Und das, was entsteht, also diese Welt, ist genau dasselbe: vollkommen, unendlich und ganz. Und selbst, wenn es all das nicht gibt, verbleibt doch Vollkommenheit, Unendlichkeit und Ganzheit. Alles ist die eine Vollkommenheit, das eine universelle Bewusstsein.
Aufbau und Struktur der Brihadaranyaka Upanishad
Die Brihadaranyaka Upanishad ist bei weitem die längste der klassischen Upanishaden und wie bei anderen Upanishaden ist auch hier der genaue Aufbau unklar. Das liegt vor allem daran, dass sie eine Sammlung von verschiedenen Texten ist, die teilweise auch davor schon unabhängig voneinander existiert haben. Das genaue Entstehungsdatum ist daher auch unmöglich zu bestimmen, wird jedoch auf 700 v. Chr. geschätzt.
Die Brihardaranyaka Upanishad ist aufgeteilt in sechs Kapitel, die wiederum in mehrere Abschnitte unterteilt sind und von Gedichten, über Prosa bis hin zu praktischen Anleitungen reichen. Shankaracharya verfasste einen Kommentar zur Brihardaranyaka, weshalb sie zu den wichtigsten Upanishaden zählt.
Aufgrund ihrer Größe habe ich drei Geschichten herausgesucht, die ihren Inhalt besonders schön und umfassend darstellen.
Yajnavalkya und seine Frau Maitreyi
In Indien war es lange Tradition, dass ein Mann zu einem Zeitpunkt in seinem Leben seine Familie verlässt und das weltliche Leben aufgibt, um sich ganz der Selbstverwirklichung hinzugeben.
Eines Tages ist auch für den Weisen Yajnavalkya dieser Tag gekommen. Also ging er zu seiner Frau Maitreyi und sagte ihr, dass er sie verlassen würde und all seinen Besitz zwischen ihr und Katyayani, seiner anderen Frau, aufteilen würde. So sei dafür gesorgt, dass sie sich um Vermögen keine Gedanken machen muss und ein angenehmes Leben führen kann.
Maitreyi, die den Sinn dieses materiellen Reichtums anzweifelte, fragte Yajnavalkya, ob ihr dieses Wohlhaben dabei helfen wird, zu ewigem Glück zu gelangen.
„Überhaupt nicht“, antwortete er. „Du wirst leben und sterben wie jede andere reiche Person auch. Niemand kann echtes Glück mit Geld kaufen.“
„Welchen Nutzen habe ich dann von all dem Geld und den materiellen Besitztümern? Bitte, mein Herr, erkläre mir den Weg, der zum Glück führt“, bat sie ihren Mann.
Was lieben wir wirklich?
Angetan von den Bestrebungen seiner Frau, die Wahrheit zu erfahren, willigte Yajnavalkya ein, Maitreyi den Weg zum ewigen Glück zu erklären. Er beginnt mit der Aussage, dass sie ihn nicht um seinetwillen liebt und führt diese Darstellung weiter aus: Auch Kinder werden nicht um ihretwillen geliebt, das Universum wird nicht um seinetwillen geliebt, Götter werden nicht um ihretwillen geliebt.
Nichts wird wegen seiner Erscheinung, Form oder Namen geliebt. Der einzige Grund für Liebe sei das Selbst, das in allem lebt. Wenn wir etwas lieben, dann ist es nie das Objekt, das wir in Wirklichkeit lieben, sondern das Subjekt, also das Selbst, das dahintersteht.
Es ist dasselbe ungeteilte Selbst, das wir in uns finden können – das wir sind. Yajnavalkya erklärt seiner Frau, dass dieses Selbst durch Selbstbeobachtung und Meditation verwirklicht werden muss. Das sei der Weg zum ewigen Glück.
So wie es kein Wasser ohne das Meer geben kann, keine Berührung ohne die Haut, kein Geruch ohne die Nase, keine Form ohne die Augen, kein Ton ohne die Ohren, kein Gedanke ohne den Geist, keine Weisheit ohne das Herz, keine Arbeit ohne die Hände, kein Laufen ohne die Füße, keine Schriften ohne das Wort, so kann es nichts geben ohne das Selbst.
Brihadaranyaka Upanishad [2.4.11]
Das Fest von König Janaka
König Janaka von Videha wollte herausfinden, wer der Weiseste der Weisen in seinem Königreich ist, um von demjenigen unterrichtet zu werden. Also veranstaltete er ein großes Fest in seinem Palast, bei dem jeder der Gelehrten anwesend sein würde.
Er überlegte lange, wie er es am besten herausfinden könnte. Dann kam ihm die Idee, dass ein wirklich Weiser niemals von sich sagen würde, er sei der Weiseste. So könnte er durch Ausschlussverfahren vielleicht herausfinden, wer der richtige Lehrer für ihn ist.
Janaka ließ also ein Tausend seiner schönsten Kühe zusammentreiben und an jedem Horn zehn Goldstücke befestigen. Dann versammelte er alle Gelehrten vor dem Gehege und sagte zu ihnen:
Verehrte Brahmanen, diese Kühe sind für den Weisesten von euch. Er kann sie sich nehmen.
Brihadaranyaka Upanishad [3.1.2]
Keiner der Gelehrten getraute sich etwas zu sagen, bis auf Yajnavalkya. Dieser befahl seinem Schüler Samashrava, sich die Kühe zu nehmen und nach Hause zu bringen.
Ashvala, der königliche Priester, fragte Yajnavalkya, ob er wirklich denken würde, er sei der Weiseste von all den Versammelten hier.
Humorvoll wie er war antwortete er: „Ich verneige mich vor dem Weisesten, aber ich will diese Kühe.“
Alle anderen waren außer sich. Nach und nach begannen die verschiedenen Gelehrten Yajnavalkya über die Schriften auszufragen, um ihn bloßstellen und die Kühe für sich nehmen zu können. Doch keiner der Anwesenden konnte Yajnavalkya in einer Debatte besiegen, auch nicht der königliche Priester Ashvala.
Das Unvergängliche
Nach stundenlangem Debattieren stand schließlich Gargi auf, die weibliche Weise aus den Veden, und verkündete, dass sie mit nur zwei Fragen feststellen würde, ob Yajnavalkya das Recht auf diese Kühe hat.
Sie fragte ihn: „Das was über dem Himmel und unter der Erde ist, was ebenso zwischen Himmel und Erde ist, was gleich ist in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in was ist das gewebt, verwunden und eingebaut?“
Yajnavalkya antwortete: „Das was über dem Himmel und unter der Erde ist, was ebenso zwischen Himmel und Erde ist, was gleich ist in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ist gewebt, verwunden und eingebaut im Raum.“
Zufrieden mit der Antwort von Yajnavalkya stellte sie ihre zweite Frage. Nun wollte sie wissen, in was der Raum gewebt, verwunden und eingebaut sei.
Yajnavalkya antwortete ihr:
Die Weisen nennen es Akshara, das Unvergängliche. Es ist weder groß noch klein, weder lang noch kurz, weder heiß noch kalt, weder hell noch dunkel, weder Luft noch Raum. Es ist ohne Anhaftung, ohne Geschmack, Geruch oder Berührung, ohne Augen, Ohren, Zunge, Mund, Atem oder Verstand, ohne Bewegung, ohne Grenzen, ohne Innen oder Außen. Es verbraucht nichts, und nichts verbraucht es.
Brihadaranyaka Upanishad [3.8.7-8]
Er erklärt weiter:
Das Unvergängliche ist der Sehende, Gargi, doch nicht sehbar; der Hörende, doch nicht hörbar; der Denkende, doch nicht denkbar; der Wissende, doch unkennbar. Nichts anderes als das Unvergängliche kann sehen, hören, denken oder wissen. Es ist im Unvergänglichen, in dem der Raum gewebt, verwunden und eingebaut ist.
Brihadaranyaka Upanishad [3.8.11]
Gargi huldigte Yajnavalkya für seine Antwort und sagte den anderen Weisen, niemand könne ihn in einer Debatte über Brahman besiegen. Schließlich wurde Yajnavalkya der Berater von Janaka und begann damit, ihn die verschiedenen Zustände des Bewusstseins zu lehren, ähnlich wie die Mandukya Upanishad es tut.
Die drei erhabenen Eigenschaften
Die dritte Geschichte spielt von Prajapati, dem Schöpfer aller Wesen und seinen Kindern, den Göttern, Menschen und Asuras (Dämonen). Sie alle lebten bei ihrem Vater als seine Schüler und wurden von ihm unterrichtet.
Am Ende ihrer Ausbildung baten die Götter ihren Vater: „Ehrwürdiger, bitte gib uns unsere Aufgabe.“
Prajapati antwortete mit einer Silbe: „Da.“ Er fragte, ob sie verstanden hätten.
„Ja“, antworteten sie. „Du hast uns damyata gesagt, seid selbstkontrolliert.“
„Ihr habt es verstanden“, sagte er.
Danach baten die Menschen ihren Vater: „Ehrwürdiger, bitte gib uns unsere Aufgabe.“
Prajapati antwortete mit einer Silbe: „Da.“ Er fragte, ob sie verstanden hätten.
„Ja“, antworteten sie. „Du hast uns datta gesagt, gebt.“
„Ihr habt es verstanden“, sagte er.
Zuletzt baten die Asuras ihren Vater: „Ehrwürdiger, bitte gib uns unsere Aufgabe.“
Wieder antwortete Prajapati nur mit „Da“ und fragte, ob sie verstanden hätten.
„Ja“, antworteten sie. „Du hast uns dayadhvam gesagt, habt Mitgefühl.“
„Ihr habt es verstanden“, sagte er.
Schließlich ertönte die Stimme des Donners im Himmel und wiederholte diese Lehre: Da-da-da! Seid selbstkontrolliert, gebt und habt Mitgefühl!
Die Essenz der Brihadaranyaka Upanishad
Aufgrund ihres Umfangs gestaltet es sich schwierig, die Brihadaranyaka kurz zusammenzufassen. Die Geschichten sprechen alle für sich selbst und vermitteln eine Nachricht, zu der wir mit unserem Verstand nur schwer Zugang finden können.
Doch diese Nachricht ist in ihrer Essenz letztlich immer dieselbe. Auch wenn die Upanishaden verschiedene Ansätze haben, das Unerklärliche zu erklären und uns den Weg dorthin zu weisen, ist das, worauf sie zeigen, immer gleich.
Es ist das wahre, absolute Selbst, das allem innewohnt.
In der ersten Geschichte erklärt Yajnavalkya diese Wahrheit anhand von Glück und Liebe, in der zweiten Geschichte durch die Unantastbarkeit des Selbst von äußeren und inneren Eindrücke. Die dritte Geschichte von Prajapati gibt uns schließlich die Eigenschaften an die Hand, die uns die direkte Erfahrung unseres wahren Selbst ermöglichen.
So finden wir in der Brihadaranyaka Upanishad zum einen ausführliche Beschreibungen über die Selbstverwirklichung, als auch konkrete Erklärungen über den Weg dorthin. Das macht sie zu einer leicht begehbaren und besonders ansprechenden Upanishad.
Wie dein Verlangen, so dein Wille. Wie dein Wille, so deine Tat. Wie deine Tat, so dein Schicksal.
Brihadaranyaka Upanishad [4.4.5]
ॐ Shanti Shanti Shanti
Schöner Artikel. Danke!