Die drei Sätze des Shankaracharya

Shankaracharya Statue bei Yoga Vidya bad Meinberg

Obwohl er wohl unzählige philosophische Schriften gelesen und ebenso viele selbst verfasst hat, fiel es dem berühmten Vedanta Lehrer Shankaracharya nicht schwer, kurz und prägnant die Lehre des Vedanta zusammenzufassen. Die sogenannten “drei Sätze des Shankaracharya” haben dabei nichts anderes, als den Anspruch einer philosophischen Weltformel.

Für die 3 Sätze des Shankaracharya gibt es auch eine schöne poetische Übersetzung, verfasst von einem deutschen Dichter namens Rückert: “In drei Sätzen sei es verkündet, was man in Tausend Büchern findet. Brahman ist wirklich. Die Welt ist Schein. Das Individuum ist nichts, als Brahman allein.”

Herkunft der 3 Sätze des Shankaracharya

Shankara bzw. Shankaracharya war ein großer Vedanta-Lehrer, der vermutlich um 800 n. Chr. lebte. Als er mit gerade mal 32 Jahren im Himalaya-Gebirge starb, hinterließ er umfassende Kommentare zu einigen der wichtigsten Werke des Vedanta, eine Vielzahl eigener Schriften und die von ihm begründete philosophische Strömung des Advaita Vedanta.

Unzweifelbar gilt Shankara heute noch als eine intellektuelle und spirituelle Koryphäe. Dennoch hat er die Lehre des Vedanta für die Allgemeinheit auf die einfache Formel von drei Sätzen reduziert. Diese werden mittlerweile als die “drei Sätze des Shankaracharya” bezeichnet (mehr zu den Grundprinzipien des Vedanta).

1. Brahman ist wirklich

Brahman, das reine Bewusstsein

Der erste der drei Sätze des Shankaracharya lautet: “Brahman ist wirklich”. Ich möchte diesen Satz kurz erläutern. Brahman ist wirklich. Es gibt eine unendliche ewige Wirklichkeit. Es gibt das Göttliche und es ist wirklich und erfahrbar.

Die Welt ist eine Illusion

Das Ziel des Lebens ist das Göttliche zu erfahren und zu verwirklichen. Die Welt, wie wir sie gerade erfahren, ist dagegen nicht wirklich. Wie wir die Welt erfahren ist eine Illusion und Täuschung. Man kann auch sagen, dass es mehrere Grade von Illusionen gibt.

Der erste Grad der Illusion ist, wie wir die Welt sehen. Wir sehen die Welt nur in Abbildern. Auf deren Grundlage interpretieren wir die Welt und fassen sie in Worten, Bilder und Konzepte. Weil jeder seine eigene Welt für wahr hält, kommt es so unweigerlich zu vielen Konflikten.

Verständnis aufbringen: Wie jeder in seiner eigenen Welt lebt

Doch wenn wir erkennen, dass jeder in seiner eigenen Welt lebt, wir miteinander kommunizieren und dabei neugierig sind auf die Welten anderer, so können wir versuchen, miteinander gut zurechtzukommen. Die Erkenntnis, dass die eigene Welt, wie wir sie wahrnehmen, eine Illusion ist, kann zu mehr Verständnis führen.

Des Weiteren kann diese Einsicht helfen, Missverständnisse zu vermeiden und kann auch dazu beitragen, dass man nicht alles so ernst nimmt und einen gewissen Humor und Gelassenheit entwickelt. Das ist die „Mithya ersten Grades“. Mithya kann auch als Täuschung übersetzt werden.

2. Die Welt ist Schein

Dazu gibt es noch die Mithya zweiten Grades: “Die Welt ist Schein”. Die Welt, wie wir sie kennen, existiert also nicht. Doch was bedeutet das? Darüber kann man auf verschiedene Weise nachdenken. Dann gibt es die unterschiedlichsten Interpretationen und auch große Streitgespräche mit ungleichen Standpunkten.

Die zweifelhafte Existenz der Welt

Gibt es überhaupt keine Welt? Oder gibt es nur eine Welt, die aber nicht so ist, wie wir sie denken? Darüber kann man sehr lange meditieren. Das Wichtigste wäre Samadhi zu erreichen, denn so wissen wir es und können es immer noch nicht ganz in Worte fassen.

Die Vedantins würden dazu sagen:

„Die Welt ist Brahman. Dass wir eine Vorstellung haben, es gebe eine Welt abgetrennt von Brahman, ist ein Irrtum. Es gibt nur Brahman und das manifestiert sich als die Welt. Es heißt, die Welt sei wie ein Traum von Brahman. In Brahman kommt Ishvara, welcher träumt, denn die Welt ist ein Traum von Brahman.“

Jedenfalls wissen wir auch, dass keine Welt in Bildern, Klängen und in den uns bekannten drei Dimensionen existiert. Auch keine Welt, die in der Zeit gleichmäßig voranschreitet. Wir wissen, dass dies alles eine Illusion ist. Ob es darüber hinaus noch etwas gibt, was wir als multi-dimensionales und nicht in Zeit voranschreitendes Universum bezeichnen können, liegt auf einem anderen Standpunkt.

Locker bleiben und sich nicht zu ernst nehmen

Ohne uns nun in die philosophischen Spitzfindigkeiten hinein zu begeben, können wir nun sagen, dass die Welt, wie wir sie wahrnehmen, eine Täuschung ist. Wir sollten sie nicht zu ernst nehmen. Wenn wir sagen, dass die Welt ein Traum von Brahman sei, dann haben wir als Traumgestalt von Brahman auch gewisse Aufgaben und sollten dann doch einiges tun.

Das aber mit einem gewissen Humor und einer gewissen Leichtigkeit. Dazu auch eventuell Neugier, was Brahman sich als Nächstes wohl einfallen lässt. Doch hier vermenschlichen wir Brahman, obwohl es reines Bewusstsein ist.

3. Das Individuum ist nichts anderes als Brahman allein

Das erleuchtete Individuum

Jetzt kommt der dritte Satz des Shankaracharya, die große Aussage „jivo brahmaiva naparah“ oder „das Individuum ist nichts anderes als Brahman“. Du existierst nicht als Individuum, sondern nur als Brahman. Deine wahre Natur ist Satchidananda “Unendliches Sein, Wissen, Glückseligkeit”. Das ist auch die Natur von Brahman. Es gibt nur ein Satchidananda.

Alles ist reines Bewusstsein

Du bist nicht der Körper oder die Psyche, denn du bist in Wirklichkeit das Unsterbliche Selbst und somit eins mit Brahman. Auch jeder andere ist nichts anderes als das Unsterbliche Selbst. Es ist gut, dir immer wieder bewusst zu machen, dass es hinter allem eine unendliche, ewige Wirklichkeit gibt – Brahman.

Die Welt, wie du sie wahrnimmst, ist eine Illusion. Sie existiert so nicht. Des Weiteren hat jeder seine eigenen Illusionen. Dennoch gibt es eine unendliche Wirklichkeit. „Jivo brahmaiva naparah“.

Du selbst bist in Wahrheit Brahman und jeder andere ist ebenso in Wahrheit Brahman. So wie es in einem Traum hinter der ganzen Welt nur ein einziges Bewusstsein gibt, existiert in dieser scheinbaren Wachwelt auch nur ein einziges unendliches Bewusstsein.

So wie die Welt eines Traumes aus dem Bewusstsein eines Träumenden projiziert wird und auch letztlich nur aus dem Bewusstsein des Träumenden besteht, so ist diese ganze Welt nur eine Manifestation von Brahman und besteht nur aus Brahman.

Du kannst das Geschriebene intellektuell eruieren und auch vor allen Dingen erfahren. Du kannst es auch verwirklichen. Lebe aus diesem Geist von Vedanta für die nächsten Tage.

Brahman erfahren

„Brahma satyam“ bedeutet: hinter allem ist Brahman. Was auch bedeuten kann, dass du hinter allem auch Brahman erfahren kannst. Du kannst Gotterfahrungen machen. Da letztlich alles eine Manifestation von Brahman ist, kannst auch du in allem Brahman erfahren.

In dem Moment, in dem du mit einem Menschen zusammen bist und dich mit ihm im Herzen verbindest, erfährst du dort Brahman. Zwischendurch hältst du inne und dehnst dein Bewusstsein gen Himmel aus und du erfährst dich als Brahman.

Einfach mal zwischendurch dein Bewusstsein in alle Richtungen ausdehnen und du erfährst Brahman. Mache kleine Gotteserfahrungen, indem du zwischendurch Worten und Bildern eine Pause gibst, nicht so viel über dich und andere nachdenkst und Bewusstsein ausdehnst. In diesem Moment, in dem du aufhörst, dich mit einem kleinem zu identifizieren, reines Bewusstsein bist und mit Bewusstheit etwas anderes bewusst wahrnehmen möchtest, leuchtet Brahman auf.

Da es nur Brahman gibt, kannst du auch in allem Brahman wahrnehmen. Mache dir dies zwischendurch immer wieder bewusst. Mein Name ist Sukadev, aber ein Name ist eine Illusion, Internet ist Illusion. Alles ist Illusion. Hinter allem gibt es nur Brahman.


Überarbeitet und ergänzt am 04.07.2021

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Die Viveka Chudamani ist eine der klassischen Schriften des Shankaracharya. „Das Kleinod der Unterscheidungskraft“, ist eine praktische und tiefgründige Analyse der menschlichen Zwickmühle, der Natur der wahren Realität sowie der Mittel und Wege zur Freiheit vom Rad des Todes und der Wiedergeburt:

 

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Der Autor

Sukadev Volker Bretz ist Gründer und spiritueller Leiter von Yoga Vidya. Er versteht es wunderbar, tiefe Weisheit humorvoll weiterzugeben. Seine besondere Stärke ist es, Aspiranten zu intensiver Praxis zu motivieren, hinter allem einen höheren Sinn zu sehen und mehr Energie und Herz in den Alltag zu bringen.

Er ist Autor von: „Die Yoga-Weisheit des Patanjali für Menschen von heute“, „Das Yoga Vidya Asana Buch“ und „Der Königsweg zur Gelassenheit“. Schon als Kind hatte er spirituelle Erfahrungen. Als Jugendlicher war er von den Möglichkeiten des menschlichen Geistes fasziniert, übte Techniken des mentalen Trainings und Meditation.

12 Jahre lebte er in den Zentren seines Meisters Swami Vishnu-devananda, der ihn durch intensive spirituelle Praxis zu tiefer Erfahrung und Einsicht führte. 1992 gründete er die Yoga Vidya Zentren, um ein ganzheitliches, lebensnahes Yoga zu lehren. Yoga Vidya hat inzwischen 4 große Yoga Ashrams, über 80 Yoga Vidya Zentren und 18.000 ausgebildete Yogalehrer. Erlebe den dynamischen Begründer einer der führenden Yoga-Bewegungen Europas.

2 Kommentare zu “Die drei Sätze des Shankaracharya

  1. Ich möchte mich an dieser Stelle einfach für diese lesenswerten Ausführungen herzlich bedanken.

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