Überleben in Gemeinschaft – Wie die Evolution Kooperation und Altruismus entstehen ließ

Kooperation und Konkurrenz, zwei Eigenschaften, die beide zu denselben grundlegenden Zielen führen können: zu überleben und sich evolutionär fortzupflanzen. Jo Eckardt geht der Frage nach, wann wir welche Strategie wählen, welchen Einfluss sie auf die Menschheitsgeschichte hatten und ob wir uns von einer der beiden einen größeren Vorsprung erwarten können.
Ein Beitrag von Jo Eckardt erstmals erschienen in der Tattva Viveka 91
Warum verhalten sich manche Menschen egoistisch und andere kooperativ?
Wie entsteht Empathie auf der einen und Rücksichtslosigkeit und Verachtung auf der anderen Seite? Die Psychologie versucht, diese Fragen aus einer individuellen Perspektive heraus zu beantworten.
Je nachdem, welche frühen Erfahrungen ein Mensch macht, entwickeln sich die Bindungsfähigkeit, das Urvertrauen und die Fähigkeit zur Empathie. Hinzu kommt noch die jeweilige Persönlichkeit, mit der jeder Mensch geboren wird. Sie ist zwar bis zu einem gewissen Grad veränderbar, gibt aber doch wesentliche Grundzüge vor: etwa ob jemand extrovertiert oder eher introvertiert ist.
Nimmt man sich also eine bestimmte Person vor, kann man wahrscheinlich ziemlich genau herausfinden, warum sie so fühlt und agiert, wie sie es tut. Man könnte dann vermuten, dass ein kooperativer Mensch als Kind viel Empathie erlebt hat und Grund hatte, sich und anderen zu vertrauen.
Vielleicht hat auch eine offene und umgängliche Persönlichkeit geholfen, viele gute Bindungen entstehen zu lassen, und die Neigung zur Kooperation hat sich dann ganz einfach entwickelt. Andersherum ist es möglich, dass ein egoistischer Mensch als Kind das Gefühl hatte, nicht das zu bekommen, was ihm oder ihr zustand.
Wer keine Liebe spürt und kein Mitgefühl erlebt, wird selbst wenig Empathie für andere entwickeln und das schwache Selbstwertgefühl durch materielle Erfolge zu kompensieren versuchen.
Ausbau der sozialen Fähigkeiten – der Entwicklungssprung?
Eine ganz andere Frage ist aber, warum wir Menschen überhaupt Empathie und die Fähigkeit zur Kooperation entwickelt haben. Ist die soziale Kompetenz vielleicht sogar das Erfolgsgeheimnis unserer Spezies, das uns überhaupt erst zu den Wesen gemacht hat, die wir sind?
Sind Kooperation und Altruismus Wesensmerkmale von uns Menschen, die uns von den Tieren unterscheiden? Die Anthropologie, aber natürlich auch die Zoologie, Soziologie und Evolutionspsychologie interessieren sich für diese Fragen.
Tatsächlich setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass es nicht die »Intelligenz« ist, nicht die Fähigkeit, Werkzeuge zu benutzen und Sprache zu entwickeln, nicht die Beherrschung des Feuers. Nein, was den frühen Menschen geholfen hat, den enormen Entwicklungssprung zu vollziehen, der zum Homo sapiens führte, war der Ausbau der sozialen Fähigkeiten.
Dabei ist es nicht so, dass Tiere keine sozialen Fähigkeiten hätten. In den letzten Jahren ist es Tierpsychologen und Verhaltensforscherinnen gelungen, viele erstaunliche Entdeckungen zu machen. Tiere bemerken, wenn Belohnungen ungerecht verteilt werden, und können ernsthaft wütend werden, wenn andere mehr bekommen.
Auch in der Tierwelt gibt es Kooperation
Man kann also voraussetzen, dass sie so etwas wie einen Gerechtigkeitssinn haben. Wenn es darum geht, an Futter zu gelangen, können sie Strategien entwickeln, die Kooperation voraussetzen. Solche, bei denen also einzelne Tiere Schritte durchführen, die erst einmal gar nichts mit dem Futter zu tun haben. In der Zusammenarbeit führen sie letztlich doch dazu, dass alle zu fressen bekommen.
Einige Tiere können Emotionen in Menschen erkennen. Andere helfen Artgenossen aus prekären Situationen und gehen dabei sogar Risiken für ihr eigenes Leben ein. Dabei geht es nicht nur um intelligente Säugetiere wie Elefanten, Hunde, Affen oder Ratten, sondern auch um Vögel und andere Tierarten.
Sind nicht überhaupt die größten Kooperations-Experten Ameisen und Bienen? Und was ist mit der Spinnenart, die den größten Akt der Selbstaufopferung vollführt, der vorstellbar ist: Die Mutter löst sich nach der Geburt auf, um den Nachkommen als Nahrung zur Verfügung zu stehen.
Gut, könnte man sagen, aber nur der Mensch empfindet so etwas wie wahres Mitgefühl und Altruismus. Oder nicht? Auch hier würden Tierpsychologen widersprechen und Hundebesitzer sowieso. Und doch ist die soziale Kompetenz das herausragende Merkmal, das unseren Vorfahren den entscheidenden Schub gab, um sich von den engsten Verwandten fortzuentwickeln.
Funde von Hominiden kurz vor der Abspaltung der menschlichen Spezies lassen darauf schließen, dass die Gehirne gerade in den Bereichen, die für Empathie und Kooperation benötigt werden, sich anfangs nicht von denen der anderen Menschenaffen unterschieden.
Einige Millionen Jahre schienen unsere Vorfahren den anderen Affenarten wahrscheinlich sogar unterlegen. Erst als die Entwicklung des Gehirns einen Sprung machte und soziale Fähigkeiten ausgeprägt wurden, begann der Siegeszug der Menschheit. Wie kam es dazu?
Die Großmutter-Theorie
Die US-amerikanische Soziobiologin und Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy entwickelt in ihrem spannenden Buch Mütter und andere (Berlin 2010) die Theorie, dass alles mit der Fürsorge für den Nachwuchs begann.
Menschenaffenbabys bleiben ja jahrelang von Erwachsenen abhängig und sind alleine nicht überlebensfähig. Sie werden von ihren Müttern gesäugt und gefüttert, bis sie ungefähr fünf Jahre alt sind. Der Preis dafür ist, dass die Mütter während dieser ersten Jahre nicht wieder schwanger werden können.
Andere Gruppenmitglieder beschäftigen sich zuweilen auch mit den Kleinen, aber die Hauptarbeit liegt ganz klar bei der leiblichen Mutter. Genau hier setzt der kleine Unterschied ein, mit dem sich Hrdys Meinung nach die Frühmenschen von ihren Cousins trennten.
Mütter begannen, Helfer einzuspannen. Sie teilten die Fürsorge für die Erziehung der Kleinen mit anderen Verwandten: mit den Vätern, aber auch mit anderen Familienmitgliedern – allen voran mit den eigenen Müttern.

Auf lange Sicht denken: Kooperation hilft letztendlich allen
Diese Großmütter lebten im günstigen Fall noch Jahre nach ihrer letzten eigenen Schwangerschaft. So halfen sie bei der Aufzucht ihrer Enkel und machten so den entscheidenden Unterschied. Sie trugen dazu bei, dass Mütter früher wieder schwanger wurden und dass die eigenen langlebigen Gene weitergegeben wurden, sodass auch diese Kinder später alt genug werden würden, um wiederum in die Großelternrolle schlüpfen zu können.
Neuere Forschung der Anthropologen James Coxworth und Kristen Hawkes weist noch auf einen weiteren, möglichen »Oma-Effekt«. Dass nämlich Mütter, deren Kinder in einer Großfamilie gut versorgt wurden, nicht nur mehr Kinder bekamen, sondern sich auch fester an die jeweiligen Väter banden und so monogame Zweierbeziehungen die Regel wurden.
Dass sich die soziale Struktur der frühen Menschen langsam veränderte, hatte weitreichende Konsequenzen für die Entwicklung des menschlichen Gehirns. Denn das kleine Baby hatte es bis zu einem gewissen Grad selbst in der Hand, wie gut es versorgt wurde. Wenn es ihm gelang, die Erwachsenen für sich einzunehmen, sie an sich zu binden, dann vergrößerten sich die Chancen, dass es auch die Zuwendung bekam, die es für eine gesunde Entwicklung brauchte.
Ein Quantensprung dank Empathie
Dafür brauchte es neue Fähigkeiten. Es musste lernen, die Befindlichkeiten der Erwachsenen zu verstehen und vorherzusehen, es musste lernen, sich in andere hineinzuversetzen. Es musste die Kunst der Kommunikation erlernen und selbst umgänglich sein. Je einfühlsamer Kinder und Erwachsene sich begegneten, je empathischer sie waren, umso häufiger überlebten sie und konnten ihre Gene weitergeben.
Von hier führt der Weg zu weiteren Entwicklungsschritten. Wer sich gut in andere hineinversetzen kann, plant besser und kann seine Intelligenz besser einsetzen. Kommunikative Bedürfnisse begünstigen die Entwicklung der Sprache. Die Intelligenz wird angeregt und führt zu planvollem und bewusstem Verhalten.
Einerseits wären die Errungenschaften der Menschheit der letzten Jahrtausende nicht möglich gewesen, wenn der Mensch nicht ein Wesen wäre, das über Empathie, Einfühlungsvermögen, Intelligenz und Gemeinschaftssinn verfügte. Andererseits bedeutet dies aber auch, dass der Mensch ohne Bindung und Gemeinschaft nur schwer Sinnhaftigkeit erfahren kann und im Falle des Verlustes von Bindung und Gemeinschaft großes seelisches Leid erfährt.
Die Großmutter-Theorie ist letztlich nicht bewiesen. Sie würde aber nicht nur den emotionalen Quantensprung erklären, der die Menschheit in ihrer Frühzeit in ein neues Zeitalter katapultiert hat. Sie erklärt außerdem, warum die Weibchen der menschlichen Spezies noch Jahrzehnte nach ihrer Gebärfähigkeit weiterleben.
Das System der Gegenseitigkeit
Eine andere Theorie widerspricht dieser ersten keineswegs, sondern ergänzt sie noch. Hierbei geht es darum, dass frühe Menschen begannen, ein Tauschsystem einzuführen, das auf Gefälligkeiten beruhte. Menschenaffen tun dies ja bereits: »Wenn du mir die Läuse vom Pelz aufklaubst, tue ich das später bei dir!«
Die Dienste und Gefallen, die Menschen sich gegenseitig angedeihen ließen, könnten mit der Zeit immer komplexer geworden sein:
- Hilfe beim Bau eines Nachtlagers,
- gemeinsamer Kampf gegen Feinde,
- Betreuung von Kindern,
- Teilen von Nahrung und anderen Dingen, die im Leben eines kleinen Stammes anfallen.
Wahrscheinlich begannen die frühen Menschen dann relativ schnell, Arbeit aufzuteilen, sodass einige besondere Aufgaben übernahmen. Gegenseitige Unterstützung fördert den sozialen Zusammenhalt und macht das Leben ein Stück weit sicherer.
Damit dieses System der Gegenseitigkeit sich wirklich entfalten konnte, brauchte der Mensch ein gewisses Maß an Empathie und Einfühlungsvermögen. Je besser ich verstehe, was mein Gegenüber wünscht, um so treffendere Angebote kann ich machen.
Je reibungsloser die Zusammenarbeit klappt, umso erfolgreicher wird der Stamm sein.
Auch Gefühle wie Scham, Schuld und Wut passen in dieses System. Denn wer den Erwartungen nicht gerecht wird, wird durch Schuld- und Schamgefühle darauf aufmerksam gemacht, dass er oder sie den »Vertrag« nicht eingehalten hat. Die anderen empfinden Wut und Ärger über die Regelbrecher. Sie sorgen durch Strafen oder Rache dafür, dass es einen Anreiz gibt, sich das nächste Mal an die Regeln zu halten.
Weitere Gründe für Kooperation: Moral, Ethik & das Kuschelhormon
Schuld, Scham und Wut sind demnach Gefühle, die ursprünglich dafür sorgten, dass Einzelne sich innerhalb einer Gemeinschaft möglichst regelkonform, also sozial verhalten. Im weiteren Verlauf führte die emotionale Entwicklung des Menschen so zu moralischen Grundsätzen und ethischen Normen.
Indem sich das menschliche Gehirn zu verändern begann, passten sich auch die physiologischen Gegebenheiten im Körper an. So ist Oxytocin beispielsweise ein wichtiges Hormon, das gebärende Mütter vermehrt ausschütten. Es bringt sie dazu, besonders viel Fürsorge zu empfinden. Auch bei Tieren hat Oxytocin diese Wirkung.