Fest verwurzelt – Yogatherapie für mehr Erdung

In der spirituellen Szene ist häufig die Rede davon, dass man sich erden muss oder jemand nicht genug geerdet ist. Was aber ist Erdung eigentlich? Ein kleiner Einblick in die Yogatherapie hilft dabei, dich mit konkreten Empfehlungen für Asanas, Pranayama und Entspannungsübungen wieder fest zu verwurzeln.

Mit beiden Beinen im Leben stehen

Das Schöne an solch schwer greifbaren Begriffen wie “Erdung” ist ja gerade, dass sie eher mit einem Gefühl, als einer verbindlichen Definition einhergehen. Aber man kann sich wohl doch darauf einigen, dass Erdung mit einem ruhigen und stabilen Geist, Körper und Energiesystem assoziiert ist. Zusätzlich verbinden wir damit eine tiefe und bewusste Verbindung zu dem Ort, an dem wir uns befinden und unseren Wurzeln. Erdung ist auch ein Gefühl von Vertrauen und Gelassenheit.

Noch einfacher ist es aber wohl, einen Mangel von Erdung zu bestimmen. Schlecht geerdete Menschen tendieren zu Ängsten, Nervosität, Unsicherheit, Sprunghaftigkeit, emotionalen Extremen und Überforderung. Klingt bekannt?

Tatsächlich mangelt es in unserer Zeit und Kultur den meisten Menschen an Erdung. In der spirituellen Szene ist dieses Problem vielleicht noch weiter verbreitet – oder wird zumindest bewusster wahrgenommen und besprochen.

Der permanente, teils unfreiwillige Konsum von sozialen und Massenmedien, der Wegfall von Traditionen und Strukturen – etwa bei Beruf, Familie und Religion – und die rasant zunehmende Abkehr von der Natur in und um uns sind nur einige Faktoren, die dazu beitragen, dass uns die Erdung verloren geht.

Yoga und die fehlende Erdung

Während Spiritualität, Yoga und alternative Heilsysteme wie Ayurveda ein enormes Potenzial haben, uns diese Erdung wiederzugeben, werden sie doch allzu oft auf eine Art praktiziert, die uns die Erdung eher noch weiter entzieht – denn auch dieses Potenzial ist dort vorhanden.

So sind etwa das Yoga und die Philosophie des Vedanta sehr auf die Transzendenz ausgerichtet – auf das nicht-materielle, nicht-greifbare, die Natur überschreitende (etwa in Form von Siddhis oder dem Konzept der Maya). Eine solche Ausrichtung ist nicht gerade erdend.

Wer weiterhin ständig auf dem Kopf steht, die Energie im Pranayama nach oben pumpt und sich in der Meditation auf den Raum über dem Scheitel konzentriert oder sein Energiefeld in alle Richtungen ausdehnt, wird auch damit nicht gerade zu seiner Erdung beitragen  – eher im Gegenteil.

Traditionelle Yogis praktizieren anders

All diese Praktiken und Ausrichtungen haben zweifellos ihren Wert – sogar einen enormen. Yoga ist halt nicht dazu gemacht zu erden, sondern zu Befreiung und Selbstverwirklichung zu führen. Und traditionelle Yogis haben es wohl auch eher nicht nötig sich durch die Yogapraxis zu erden:

  • Erstens entsagen sie oft der Welt und richten sich vollständig auf die Praxis und das Göttliche aus. Erdung ist dann für eine Bewältigung des Alltags nicht mehr notwendig.
  • Zweitens leben und praktizieren sie meist in der Natur, was natürlich sehr viel Erdung bietet.
  • Drittens stehen sie meist in sehr traditionellen und strukturierten Verhältnissen, etwa in einer Gemeinschaft mit einem Guru und ganz klarer Ausrichtung und Praxis. Das schafft weitere Erdung.

Bei modernen Yogis im Westen sieht das oft ganz anders aus. Statt einer Lehre zu folgen, werden hier meist diverse Praktiken und Ideen ganz nach dem eigenen Gefühl kombiniert. Diese werden dann neben dem Alltag, oft ohne jede Verbindung zu einer Tradition oder Ausrichtung, ausgelebt. Und das eben von Menschen denen es sowieso schon oft an Erdung mangelt. Eine potenziell gefährliche Mischung.

Yogatherapie für Erdung

Aber man kann Yoga eben auch so üben, dass es erdet. Solch ein zielgerichteter Einsatz des Yogas um spezifischen Leiden entgegenzuwirken, ist Gegenstand der Yogatherapie. Erdung ist, wie der Name schon sagt, mit dem Erdelement verbunden, das dem Luftelement entgegengesetzt ist.

Im yogischen System der Chakras ist das Erdelement dem Muladhara oder Wurzel Chakra zugeordnet, das im Zentrum des Beckenbodens lokalisiert ist. Das Muladhara ist weiterhin verbunden mit den Füßen, Beinen und dem ganzen Hüft- und Beckenraum.

Erdende Asanas

Das heißt, alle Asanas, die Kraft, Energie und Bewusstsein in diese Bereiche bringen, tragen potentiell zur Erdung bei. Dies beinhaltet also insbesondere alle Standhaltungen (etwa den Berg, den Baum, die Krieger- und Dreiecksvariationen) sowie alle Hüftöffner (etwa die tiefe Hocke, das glückliche Kind und den Schmetterling).

Das Luftelement hingegen sitzt, wie vor allem im Ayurveda beschrieben wird, besonders im Dickdarm und in den Gelenken. So können alle Gelenkbewegungen, etwa die Pawanmuktasanas (wörtlich “luftbefreiende Haltungen”), sowie alle Asanas die den Dickdarm stimulieren (etwa Drehungen wie der Drehsitz, alle Krokodilsübungen, aber z. B. auch die sitzende Vorbeuge und die Kobra) dazu beitragen, dass das Luftelement ausgeglichen wird und dadurch Erdung entsteht.

Erdendes Pranayama

Natürlich geht das Potential des Yogas hier, wie immer, weit über die Asanas hinaus. Als Pranayama etwa bietet sich die harmonisierende Wechselatmung an, am besten mit Fokus im Muladhara Chakra in der Anhaltephase, dem Setzen von Mulabandha (Beckenbodenverschluss) und dem dazugehörigen Visualisieren des Yantras des Erdelements (einem gelben Quadrat) und dem mentalen Wiederholen des Samenmantras des Erdelements Lam.

Diese Elemente können auch ohne die Wechselatmung in der Meditation geübt werden und dadurch Erdung fördern. In der Mediation auf das Muladhara kann man auch weitere erdende Visualisierungen üben. Dazu etwa einen Baum oder Wurzeln fokussieren und mental durch die Kontaktpunkte des Körpers in den Boden atmen. Alternativ kannst du dich auf die tiefe Atmung bis ins Becken fokussieren.

Tiefe Entspannung ermöglicht Erdung

Noch direkter als die sitzende Meditation kann die liegende Tiefenentspannung zur Erdung beitragen. Diese kann man gut statt einem Mittagsschlaf als Erholung im Alltag einbauen. Den Körper hier Stück für Stück zu erspüren und bewusst zu entspannen wirkt sehr erdend.

Autosuggestion und progressive Muskelrelaxation können die Entspannung unterstützen. Als Erweiterung kann im Körper Schwere und das Gefühl, dass man in der Erde versinkt, erzeugt werden. Dazu kann noch eine passende Visualisierung geübt werden, wie etwa im Yoga Nidra.

Die Anfangs-, End- und Zwischenentspannungen sollten zur Erdung auch bei der Hatha-Yoga-Praxis betont werden. Dafür sollte man immer wieder alle Anspannungen und das Gewicht mit dem Atem an die Erde abgeben. Generell ist eine entspannende Yogapraxis, wie etwa das Yin Yoga, tendenziell erdender als eine dynamische Praxis, etwa das Vinyasa Flow Yoga.


Wie Yoga und Ayurveda dabei helfen können, sich besser zu erden, was Erdung eigentlich ist und warum so viele Menschen ein Problem mit mangelnder Erdung haben, beschreibt Yoga- und Ayurvedatherapeut Raphael Mousa in der zweiteiligen Artikelserie “Fest verwurzelt”:

Seminare für mehr Erdung

Hast du das Gefühl, du brauchst mehr Erdung? Fühlst du dich oft gestresst, nervös und flatterig, oder willst anderen Menschen helfen, denen es so geht? Dann sind diese Workshops und Seminare genau das Richtige für dich!

Im Yoga Vidya Ashram in Bad Meinberg wird gelegentlich die offene therapeutische Yogastunde “für Erdung und Vata-Balance” angeboten, bei denen viele der genannten Yogatechniken praktisch geübt werden. In der örtlichen Abteilung für Yogatherapie können dir außerdem dieselben und viele weitere Techniken, auf deine individuellen Bedürfnisse zugeschnitten, in Einzelsitzungen vermittelt werden. Terminvereinbarungen dazu unter:

Der Autor

Raphael Mousa

Raphael Mousa ist Yogalehrer, Yogatherapeut und Ayurveda Gesundheitsberater und schreibt seine Doktorarbeit über den Austausch von Yoga und Psychotherapie. Er wurde in Indien und Deutschland in den Yoga-Traditionen von Sivananda, Satyananda und Iyengar ausgebildet. In Indien war er außerdem in der Yoga-Klinik Arogyadham tätig und hat in zahlreichen Ashrams und heiligen Stätten gelernt und praktiziert.

Für seinen Bachelor in Ethnologie und Psychologie und seinen Master in Medizinanthropologie hat er in Nepal über Schamanismus geforscht. Weiterhin hat er Kurse und Retreats, u. a. in Klangtherapie, Vipassana, Tantra, tibetischem Buddhismus, Ayurveda, traumasensiblen Yoga, psychologischer Yogatherapie, Reiki und Kundalini Yoga absolviert.

Bei Yoga Vidya Bad Meinberg ist Raphael Sevaka in den Abteilungen für Yogatherapie und Ayurveda tätig und gibt u. a. yogatherapeutische Einzelsitzungen, Yogastunden, Pranayama, ayurvedische Konsultationen und Massagen.

4 Kommentare zu “Fest verwurzelt – Yogatherapie für mehr Erdung

  1. OM SHANTI, ich würde gerne das Online Seminar Yogatherapie für mehr Erdung am Freitag 12.12.21 von 15.00 – 18.00 Uhr buchen. Meine Frage, ist es möglich eine Aufzeichnung per Mail zu erhalten, da ich an diesem Tag leider nicht life über Zoom dabei sein kann.

    Ich bitte um kurze Rückmeldung. Vielen Dank 🙏

    Viele Grüße, Birgit

    • Hallo liebe Birgit. Ich habe mal dazu nachgefragt, leider wird es keine Aufzeichnung geben! Allerdings beraten Raphael und die anderen Therapeuten in Bad Meinberg gerne zu allen Fragen, die du hinsichtlich Vata-Balance und Erdung hast. Dazu melde dich sehr gerne unter yogatherapie@yoga-vidya.de

  2. Hallo,
    Leben ist wichtig, jedoch wenn es dir nicht gut geht aus unterschiedlichen Gründen, dann kann dich Mutter Erde sehr unterstützen. Danke Raphael für diesen wundervollen Artikel. Ich habe nach vatastörung gesucht und sehr gute Impulse in diesen Zeilen gefunden.
    Om shanti
    Padmana

  3. hallo allerseits,

    ich persönlich denke, dass LEBEN viel wichtiger ist als erdung.

    viele grüße

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