Die geistige Symbolik der Asanas – Raja Yoga auf der Yogamatte – Teil 4

Heute sind wir schließlich beim vierten und damit letzten Teil der Blog-Serie über die geistige Bedeutung der Asanas der Yoga Vidya Grundreihe angelangt.

Die geistige Wirkung einer Yoga-Haltung kann sich umso mehr entfalten, je länger Du das Asana hältst.

Man sagt, dass sich die körperliche Wirkung bereits bei einer Haltezeit von 1 – 3 Minuten einstellt. Für die energetische Wirkung ist es gut, die Stellung etwa 5 Minuten zu halten.Um die geistigen Wirkungen zu erfahren, solltest Du 5-10 Minuten oder länger in der Position verweilen.

Damit wird klar, dass eine solche Yogapraxis eine sanfte sein muss, denn wahrscheinlich wirst Du nur schwerlich 10 Minuten lang in der Endstellung – also der Stellung mit maximaler Dehnung oder Muskelanspannung – bleiben können.

Ähnlich wie im Yin Yoga kannst damit spielen, zu ca. 70% oder 80% Deiner körperlichen Möglichkeiten in die Haltung zu kommen und dann zu schauen, wie lange Du auf diese Weise mit gleichmütigem Geist und ruhigem gleichmäßigen Atem verweilen kannst.

Im letzten Artikel waren wir bei Bhujangasana, der Kobra, angelangt. Nun soll es weitergehen mit Dhanurasana, dem Bogen.

Dhanurasana – Bogen

Beim Bogenschießen kommt es darauf an, die optimale Spannung für den Bogen zu finden. Wird die Sehne zu stark gespannt, bricht der Bogen. Ist die Spannung zu gering, wird der Pfeil nicht fliegen. Dies ist ein wichtiger Hinweis für Deine Yoga Praxis:

Übst Du zu ehrgeizig, kannst Du Dich verletzen. Übst Du zu lasch, wirst Du Dich kaum weiterentwickeln. Es geht also darum, die harmonische Mitte zu finden, in der Du die Waage findest zwischen Anspannung und Entspannung, zwischen Disziplin und Gelassenheit.

„Sthira-sukham asanam“ (Yoga Sutra, Patanjali, 2.46) – Die Haltung ist stabil und leicht zugleich.

Ardha Matsyendrasana – Drehsitz

In dieser Haltung geht es darum, die aufgerichtete Wirbelsäule zu drehen. Die Aufrichtung wird initiiert, indem Du Dein Gesäß gut erdest und es in den Boden drückst. Die Wirbelsäule verlängert sich dadurch nach unten und richtet sich gleichzeitig nach oben auf. Dies kannst Du nun verstärken, indem Du den Brustkorb hebst, ohne dabei den Bauch hinauszustrecken, und den Scheitel weiter hoch schiebst.

Du kannst Deine gestreckte Wirbelsäule visualisieren, wie sie wie eine Perlenkette nach oben und unten lang gezogen wird. Dabei spannst Du Dich auf zwischen Erde und Himmel, die für die stoffliche und die geistige Welt stehen.

Du bist das Lebewesen, das beides in sich vereint: das göttliche Bewusstsein und den stofflichen Körper. Das Formlose in Form, das die Materie belebende Bewusstsein. Wenn Du dies als Deine Identität erkennst, wird es Dir möglich, flexibel in der Welt zu agieren, Dich auf andere Menschen und Umstände einzustellen, ohne Dich selbst dabei zu verlieren.

Savasana – Totenstellung

In Savasana, der Endentspannung, ernten wir die Früchte unserer Handlung. In den Asanas haben wir Energie aktiviert und zum Fließen gebracht. Nun kann sie sich in Ruhe ihren Weg suchen und dort heilen, wo Heilung geschehen soll.

Dazu ist es wichtig, Dich zu entspannen und, so gut Du kannst, loszulassen. An dieser Stelle wird klar, warum Savasana bildlich für den Tod des Egos steht. Das Ego möchte jede Situation durch eigene Handlungen kontrollieren. Dies steht in totalem Gegensatz zum Loslassen, Entspannen, Nicht-handeln und einfach Geschehen-lassen.

Das Thema Tod ist für die meisten Menschen ein Tabuthema. Dabei ist der Tod Teil des Lebens, so wie Geburt, Wachsen, Sein und Vergehen. Was ist also der Sinn des Lebens, wenn der Tod das unausweichliche Ende ist?

Nichts von dieser Welt kannst Du mitnehmen, wenn Du am Ende auf den Schwingen des Todes in eine andere Welt über gehst. Haus, Auto, Job, Freunde, Kinder, Partner, sozialen Status, Geld, Macht, Ansehen und auch den Körper – alles lässt Du zurück. Was für einen Wert haben diese Dinge noch, wenn Du Dir das bewusst machst?

Alles, was bleibt, sind Erfahrungen, Momente der Freude, der Liebe und des Mitgefühls. Diese Dinge sind Nahrung für die Seele. Unsere spirituelle Praxis ist eine gute Vorbereitung auf den Tod. Denn je mehr wir verstehen, wer wir sind, desto weniger Angst haben wir vor dem Sterben.

Tägliche Praxis

Die großen Meister aller Traditionen halten uns zu täglicher Übungspraxis an. Damit ist zunächst die Meditationspraxis gemeint, denn das ist die wichtigste Praxis aller Yogawege und -traditionen. Hatha Yoga dient der Vorbereitung auf die Meditation und hilft uns, den Geist möglichst oft in einem sattvigen Zustand zu halten, was für die Meditation und auch für Karma-Yoga von größter Bedeutung ist.

Natürlich zeigen sich auch die körperlichen Wirkungen der Hatha-Yoga Praxis schneller und deutlicher, je öfter Du übst. Leider scheitert die tägliche Praxis bei vielen Yoginis und Yogis an zu hohen Ansprüchen und/ oder zu wenig Disziplin.

Es ist leicht, sich vorzunehmen, jeden Tag um 5 Uhr aufzustehen und zwei Stunden Hatha-Yoga und Meditation zu üben. Und es ist noch leichter, jeden Morgen, wenn der Wecker klingelt, eine neue einleuchtende Ausrede zu finden, warum das heute doch nicht geht…

Wenn Du diese Schwierigkeit kennst, kannst Du schauen, wie Du Deine Ziele anpassen kannst, damit sie keine Hürde mehr darstellen. Auch wenn von den zwei Stunden nur 15 Minuten übrig bleiben – 15 Minuten tatsächlich geübte Praxis sind besser als zwei Stunden nicht ausgeführte gute Vorsätze!

Nun kann sich Deine Praxis über einen längeren Zeitraum in einer täglichen Regelmäßigkeit etablieren, und es entsteht ein immer gleiches Ritual. Bestenfalls praktizierst Du täglich zu einer bestimmten Zeit am selben Ort auf Deiner Yogamatte.

Dieses immer gleiche Ritual hat eine unglaubliche Kraft: es hilft Dir nicht nur, in Deiner Praxis stabil zu bleiben, sondern es zeigt Dir im Laufe der Zeit auch etwas ganz Essenzielles:

Die Veränderung findet nur in Dir statt!

Wir alle haben gute und schlechte Tage. So wie sich unser Körper nicht jeden Tag gleich anfühlt, unterliegt auch unser geistiger Zustand den Schwankungen der gunas (tamas, rajas und sattva).

Es ist derselbe Ort, dieselbe Yogamatte. Das Räucherstäbchen versprüht denselben Duft, die Vögel singen dasselbe Lied. Wenn Du aus dem Fenster schaust, siehst du gegenüber denselben Balkon. auf dem derselbe Nachbar mit seinem dicken Kater sitzt. Vielleicht ist das Wetter anders, aber ansonsten ist alles gleich. Gestern warst Du fröhlich, heute bist Du es nicht.

Der einzige Unterschied ist Dein Geist, der Dir heute andere Geschichten erzählt als gestern, der heute Dinge verurteilt, die er gestern noch gut fand oder heute Dinge in den Fokus rückt, die gestern noch keine Bedeutung hatten.

So kann Dir das Ritual der täglichen Asana Praxis dabei helfen, nicht nur den Körper, sondern auch den Geist als veränderliche, von Dir verschiedene Objekte zu identifizieren, Dich aus den Bindungen der falschen Identifikationen zu befreien und zu erkennen, wer Du wirklich bist.

Und diese Erkenntnis ist das, worum es geht und die Dich zu einem zufriedenen, glücklichen und mitfühlenden Menschen macht, dessen Herz vor Liebe überfließt.

Ich wünsche Dir viel Freude beim täglichen Praktizieren, bei dem sich Stabilität und Leichtigkeit die Waage halten – denn das ist Yoga!

Om Shanti

Ein Artikel von Gauri D. Reich

 

Alle Teile dieser Serie:

Seminare mit Gauri bei Yoga Vidya:

  • Asana intensiv – musikalisch-meditativ, 23. – 25.03.2018
  • Yoga & Meditation Einführung, 11. – 13.05.2018
  • Energie finden, Trägheit überwinden, 06. – 08.07.2018
  • Yogalehrer Weiterbildung: Neue Stellungen einführen, 26. – 28.10.2018

Alle Seminare mit Gauri auf einen Blick →

Gauri Daniela Reich Yogalehrerin (BYV), Ayurveda Gesundheitsberaterin (BYVG), Vegane-Ernährungsberaterin, Yoga Personal Trainerin, Inner Flow Vinyasa Teacher, Lehrerin für Prävention und Gesundheitsförderung, Ausbildung in Thai Yoga Massage, Diplom Betriebswirtin.

Gauri praktiziert Yoga seit 2011. Nach ihrer zweijährigen Ausbildung im Yoga Vidya Center Darmstadt lebte sie knapp zwei Jahre im Yoga Vidya Ashram Bad Meinberg, wo sie ihre Yogapraxis und Unterrichtserfahrung vertiefte. Ihr Yogaunterricht reicht von therapeutischen Yoga Stunden über schweißtreibende Vinyasa Sequenzen, exakte Ausrichtungs-Prinzipien aus dem Iyengar Yoga Stil bis hin zu klassischen Sivananda oder Yoga Vidya Stunden aller Level, die auch zu Mantrayogastunden werden können.

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