Religion: Zurückkommen zur Einheit

Kirtan Singen in der Gemeinschaft

Der moderne deutsche Zeitgeist tut Religion vielleicht als etwas ab, was früher gebraucht wurde und heute bestenfalls in die Mottenkiste der Geschichte passt – und verpasst dabei womöglich die Gelegenheit, Antwort auf die einfachsten und zugleich schwierigsten Fragen zu bekommen: Wo gehöre ich hin – und wer bin ich?

Nach einem Vortrag von Katyayani während des Satsangs

Jemand hat mich gefragt: Kannst du nicht mal was sprechen über Religion? Und wahrscheinlich kann Swami Sivananda viel, viel besser sprechen über Religion und andere, aber das, was ich gelernt hab hier bei Yoga Vidya, ist Folgendes:

Was bedeutet Religion?

Das Wort Religion, was heißt das eigentlich? “Religio”, zurückkommen, zurückführen, heißt das, das ist alles. Aber wohin soll es uns denn zurückführen, oder was führt uns zurück, und warum überhaupt?

Zurückführen, das ist auch das, was das Ziel des Yoga aussagt. Yoga heißt Einheit. Und das zurückkommen zu dieser Erfahrung, dass wir eins sind, dass es eine Einheit gibt, ein umfassendes Bewusstsein, ein Göttliches, wie immer wir das dann benennen.

Diesen Prozess dorthin, dieses Zurückführen, das ist religio. Man könnte auch sagen: Zurückkommen zu dem, was die Wahrheit ist, denn wir befinden uns ja ständig in der Verwirrung, oder in der Frage zumindest: Was ist die Wahrheit? Wer bin ich wirklich? Warum bin ich überhaupt hier? Was ist der Sinn meines Daseins hier? Das ist eine Frage, die alle Menschen beschäftigt.

Und dann gibt es etwas, das uns zurückführen kann, zu dem, was wir eigentlich sind: Jede Religion besteht aus diesen 3 Bestandteilen. Jede Religion oder auch spirituelle Tradition, die fundiert ist, besteht immer aus diesen 3 Dingen:

  • Philosophie
  • Mythologie
  • Rituale

1. Die Philosophie einer Religion: Verstehen, wie die Welt wirklich ist

Der Lotus als Zeichen für Anubhava, Selbsterkenntnis

Das erste ist die Philosophie, oder die Weltanschauung. Es ist das, was erklärt, oder darstellt, wie die Welt wirklich ist. Und im Yoga haben wir dafür Vedanta. Unsere Tradition, unsere Yoga-Tradition basiert auf der Advaita Yoga Vedanta Philosophie.

Vedanta bedeutet “Das Ende des Wissens”, also das, was das Wissen darstellt. Die Vedanta Philosophie hat dazu viele Schriften, oft in Form von Zwiegesprächen, wo das Wissen über Frage und Antwort vermittelt wird.

Für viele von uns, für mich auch, ist es aber oft schwierig, das nachzuvollziehen, weil das ist ja etwas, das wir mit dem Verstand aufnehmen. Wir lesen etwas, dann denken wir darüber nach, dann überlegen wir: Was ist damit gemeint? Wir interpretieren, wir erklären, dann erklärt’s uns vielleicht ein Lehrer, dann lesen wir nochmal, das ist so die Form, wie wir das studieren. Aber es passiert vorwiegend mit dem Verstand.

Vedanta wird aber auch in Form von Gesängen vermittelt, wo dann über Klang, über Gesang dargestellt wird, was wirklich ist. Viele, eigentlich sogar alle Schriften sind in Rezitationsform und können so ausdrucksvoll vorgetragen werden.

Darüber kommen wir in einen höheren Zustand, in ein Erleben des Klanges hinein. Wir nehmen das über jede Zelle, über jeden Körper auf, ohne den Verstand. Ein wunderbares Instrument.

Philosophie versucht also darzulegen, wie die Welt wirklich ist.

2. Die Mythologie einer Religion: Fühlen, was wirklich ist

Krishna und Arjuna - Bhagavad Gita

Aber, es gibt eben noch ein Zweites, was uns hilft, das zu verstehen, was vielleicht nicht immer abschließend mit dem Verstand zu verstehen ist – und das ist die Mythologie. Auch sie ist Bestandteil einer jeden Religion oder spirituellen Tradition.

Die Mythologie erklärt uns mittels Geschichten, versucht uns, mit Bildern und das Hervorrufen von bestimmten Gefühlen, Zuständen, Erinnerungen, oder auch mittels hoher Symbolik, das bildhaft zu machen, was die Philosophie erklärt.

Und so haben wir im Yoga vor allem, sehr bekannt, das Mahabharatha, das große Epos, oder auch die Ramayana. Das sind eigentlich die zwei größten im Yoga, die wir haben. Diese versuchen über Geschichten, oder EINE große Geschichte, die über eine riesige Epoche geht, alles zu erklären.

Nehmen wir zum Beispiel die Mahabharatha: Jede Figur, die dort vorkommt, ist ein Symbol für die Facetten unseres Geistes, für das, was zwischenmenschlich geschieht, für unseren geistigen Weg, oder sogar unser ganzes Handeln und Tun.

Und hinter jeden Namen, hinter jeder Figur steckt eine hohe philosophische Symbolik. Deshalb gibt es diese Geschichten. Wenn man sie liest, findet man sich auch selbst wieder, denn es sind ja auch oft menschliche Gestalten, die da spielen.

Die Bilder, die dort beschrieben werden, sind oft sehr blumig, gerade in der indischen Tradition sehr bunt und sehr ausschweifend, was uns dann auch hilft, mit unseren Emotionen dabeizusein.

3. Rituale: Sich immer wieder daran erinnern, was wirklich ist

Kirtan Singen in der Gemeinschaft
Kirtan Singen in der Gemeinschaft

Und dann gibt es noch das dritte, und das sind die Rituale. Rituale, ein “ritus” ist etwas, das wir immer wieder tun. Und warum machen wir etwas?

Es gibt ja auch die alltäglichen Rituale, wie wenn man morgens aufsteht, um sich erstmal den Körper zu waschen, die Zunge zu reinigen und die Zähne zu putzen. Warum macht man das? Ja klar, es gibt auch hygienische Gründe.

Jeden Tag neu begehen

Aber warum legen wir Wert darauf? Das eine ist vielleicht das Alte, was sich löst, die Gifte, die herauskommen, auszuspülen, um uns dann gesund und neu zu spüren und den neuen Tag frisch zu begehen. Das andere ist dann offen zu sein, ohne alte Schlacken versehen, um die Erfahrung des neuen Tages aufzunehmen.

Das ist vielleicht nicht jedem so bewusst, aber irgendeinen Grund gibt es ja, warum wir das jeden morgen tun. Durch unser tägliches Ritual am Morgen spüren wir dann: Ich fühle mich frisch, neu, jetzt kann ich losgehen.

Und so ist das auch in der Religion, oder in der spirituellen Tradition und Praxis. Die Rituale werden immer gleich ausgeführt. Es gibt auch bestimmte Rituale, die werden immer zu derselben Zeit, an denselben Ort ausgeführt, weil es unseren Geist erinnern soll.

Sich an das Göttliche erinnern

Spirituelle Rituale sollen unseren Geist, unsere Psyche in einen Zustand bringen, nämlich in die Praxis an die Erinnerung des Göttlichen, oder dessen, was wir wirklich sind.

Vielleicht auch die Erinnerung, wo wir uns wirklich hinwenden sollen, wo es hingeht, was überhaupt das Ziel des Lebens ist. Uns gleichzeitig aber auch in einen Zustand versetzt, der es uns überhaupt möglich macht, sich dem Göttlichen oder dem allumfassenden Bewusstsein zuzuwenden und sich nicht durch anderes ablenken zu lassen.

Ein Ritual erhebt auch unseren Geist, unsere Psyche, um uns zu erinnern: Hey, da gibt es ein höheres Bewusstsein. Ich kann dorthin kommen. Ich kann diesen Zustand erreichen.

Zurückkehren

Und so gehen Philosophie, Mythologie und Ritual Hand in Hand. Sie bilden eine Dreiheit und zugleich eine Einheit. Und diese Einheit hilft uns zurückzukommen, zu dem, was die Wahrheit ist. Hari om tat sat.


Nach einem Vortrag von Katyayani während des Satsangs. Falls du tiefer in das Thema einsteigen möchtest, findest du dazu auch einen sehr ausführlichen Text von Swami Krishnananda: Was ist Religion?

Religion und Spiritualität im Yoga Ashram erleben

Die Lehre des Vedanta verstehen, den mythologischen Abenteuern Ramas lauschen, oder mal an einem Satsang oder einer Puja teilnehmen: Yoga Vidya lädt dich ein, klassisch spirituell-religiösen Yoga zu üben. Zurückkehren zu dir, zurückkehren zu dem, was ist. Dazu bist du herzlich in unsere Yoga Ashrams eingeladen.

6 Kommentare zu “Religion: Zurückkommen zur Einheit

  1. Hallo ,
    das ist eine interessante Diskussion.
    Wichtig dabei ist meiner Meinung nach, dass die Religionen sich gegenseitig wertschätzen , Gemeinsamkeiten suchen und den Dialog pflegen.
    Damit wirklich eine Einheit auf der Welt möglich wird.
    Monika

  2. Liebe Katyayani,

    im Yogalehrerhandbuch von Yoga Vidya steht an mehreren Stellen, das Yoga keine Religion ist.
    Das habe ich auch so in der Ausbildung gelernt von Prof. Dr. Katharina Kienle, dass Yoga ein klassisches Philosophiesystem ist und keine Religion.

    OM Shanti
    Yogini

    • Liebe Yogini, das ist eine interessante Debatte. Für mich stellt sich vordergründig die Frage, ob die Begrifflichkeiten und das Schubladeneinordnen das zuallererst Wichtige sind oder das Verständnis dessen, was Yoga wirklich ist, auf was er beruht und welches letztendliche Ziel er hat. Wenn jemand zum Beispiel Asanas und Pranayama übt, um gesund und vital zu sein, wird dies sicherlich für denjenigen nicht zur Religion. In der heutigen Gesellschaft wird Yoga oft reduziert auf einzelne Teile, die gutes Bewirken, aber allein nicht zielführend im Sinne des eigentlichen Yoga sind. Yoga in der Lehrtradition ist vieles: Wissenschaft, Praxissystem, Zustand der Einheit.
      Das was bei Yoga Vidya gelehrt und gelebt wird, gründet sich in der heiligen Tradition von Swami Sivananda und somit auf der spirituell-religiösen Praxis von integralem Yoga auf Grundlage der Lehre des Advaitavedānta, kurz Yoga Vedānta genannt. Diese Lehre gehört zu den modernen inklusivistischen und universalistischen Strömungen des Sanātana dharma, des sogenannten Hinduismus. Swami Sivananda hat so einen konkreten Heils-/Erlösungsweg gelehrt, der auf uralten Traditionen beruht (Yoga Vedanta, Teil der Lehre von Sanatana Dharma, sog. Hinduismus).
      Die konkrete Form, also die Organisation und die Art und Weise, in der Yoga gelebt und gelehrt wird, kann, wenn sie integral und umfassend ist, nur spirituell-religiös sein. Die Organisation, die Form und Lebensweise, die zur wahren Schau der Welt und damit Erkenntnis des Selbst führen soll, ist ein Teil der Religion. Bedeutend ist darüber hinaus die persönliche Einstellung und die persönliche Sicht. Swami Krishnananda beschreibt es in seinem Vortrag zum Thema Religion wie folgt: „So ist auch die Religion nicht nur eine Aktivität der Gliedmaßen des Körpers oder einer Gruppe von Menschen. Sie ist nicht nur das, was du mit deinen Händen und Füßen tust. Sie ist eine Haltung, die du in deinem Bewusstsein entwickelst. Wenn du die Welt betrachtest, was denkst du dann über sie? Das ist deine Religion. Wenn du die Welt anschaust, was denkst du dann über sie? Das ist deine Religion, nicht das, was du in den Tempeln und Kirchen tust. Das ist keine ausreichende Religion, obwohl es ein Teil der Religion ist. Es ist nur eine Manifestation des Geistes der Religion. Und der Geist der Religion ist eure Einstellung. Religion ist also eine Haltung des Bewusstseins. Sie ist keine Aktivität oder Funktion, die du als Individuum ausführst. Sie ist eine allgemeine Haltung der Zuneigung zu dem Ganzen, zu dem du in der Atmosphäre des Universums gehörst.“

      Om Shanti
      Kātyāyanī

  3. Liebe Katyayani! Untersucht man den Begriff “Religio” einmal auf seine ursprüngliche Bedeutung, findet man “zurückkommen, zurückführen” als seine wortwörtlich Bedeutung so gut wie gar nicht. Woher weißt du, dass das die Bedeutung ist? Es scheint mir so, als würde da ein unglaublich großes und wichtuges Thema so zurecht gestutzt, dass es irgendwie in die Yogaphilosophie passt. Und woher weißt du, dass “jede Religion oder auch spirituelle Tradition, die fundiert ist, immer aus diesen 3 Dingen” besteht?
    Philosophie
    Mythologie
    Rituale
    Und Religion ist zunächst einmal auch keine spirituelle Tradition, wie du es darstellst.
    Gruß, Johann

    • Lieber Johann!
      Das Wort „Religion“ hat seinen Ursprung in den den lateinischen Begriffen „religio“ und „religare“. „Religio“ bedeutet u.a. Glaube und Gottesverehrung, Heiligtum sowie auch Gewissenhaftigkeit, Verpflichtung, Skrupel. “Religare” heißt übersetzt zurückbinden, losbinden.
      So können diese Worte erklären, was Religion ist: Die Bindung an einen Glauben, in dem man den Geboten (im Sonne der göttlichen Gesetzmäßigkeiten) folgt nach bestem Wissen und Gewissen. Das höchste Ziel, die völlige Rückkehr zum absolutem, wahren Wissen, kann laut der Yogaphilosophie dann erreicht werden, wenn wir letztlich uns auch vom Glauben lösen. Aus Glaube kommt über die Erfahrung (aus der Praxis) die Erkenntnis und damit die Gewissheit.
      Das meine ich mit Zurückführen. Auch die Weltanschauungen und Religionen basieren auf den Erfahrungen von Menschen, die meist als Heilige oder Weise bezeichnet werden.

      Für mich ist jede Religion auch eine spirituelle Tradition und jede spirituelle Tradition, die auf den Schriften oder dem wahren Wissen beruht, auch Religion. Denn die Erfahrung des Absoluten wurde weitergegeben, verbreitet über konkrete Sicht/Erläuterung/Deutung (Philosophie), Erzählungen und Verbildlichung mittels Geschichten (Mythologie), Handlungsempfehlungen und konkrete Praktiken (spirituelle Praxis und Rituale).
      Om Shanti
      Kātyāyanī

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