Die Lehre des Schmetterlings: Alles braucht seine Zeit

Heute einmal meine Gedanken zu einer Geschichte über eine fleißige Raupe, dem Wesen der Veränderung und wie wir uns dabei oft selbst im Wege stehen.

Eines Tages bemerkte ein Mann einen Schmetterling, der sich bemühte, durch ein enges Loch hindurch aus seinem Kokon zu schlüpfen. Voller Neugierde setzte er sich daneben und beobachtete fasziniert die Mühe des kleinen Lebewesens, gewillt der vollen Transformation des Schmetterlings beizuwohnen.

Stunden vergingen, und quälend langsam mühte sich der Schmetterling Millimeter für Millimeter vorwärts. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, stockte das Tier in seinen Bemühungen, wurde langsamer und langsamer, bis es schließlich aufhörte sich zu bewegen.

Dem Mann erschien sie völlig verausgabt, am Ende ihrer Kräfte. Nach einer Weile bekam der Mann Mitleid und holte einen scharfen Gegenstand, mit dem er ganz behutsam die Öffnung des Kokons aufschnitt, sorgsam darauf bedacht, den wunderschönen Schmetterling nicht zu verletzen.

Mit großer Hingabe und ruhiger Hand fand der Mann schließlich eine geeignete Stelle und führte einen einzelnen präzisen Schnitt durch – mit Erfolg. Entzückt beobachtete er, wie der erschöpfte Schmetterling sich wieder regte und mit Leichtigkeit dem Kokon entstieg. Nach und nach erschienen sein ganzer Kopf, die Beine und schließlich auch zwei bunt-schillernde Flügel.

Durch seine Hilfe schlüpfte der Schmetterling sehr leicht, aber was der Mann dann sah, erschreckte ihn sehr. Obwohl beide Flügel farbenfroh leuchteten, schienen sie unnatürlich kurz und irgendwie welk zu sein. Sein Körper hingegen war im Vergleich dazu übermäßig groß und geschwollen.

Besorgt beschloss der Mann, die ersten Flugversuche seines Schützlings abzuwarten. Doch egal wie sehr sich der Schmetterling auch anstrengte, die schwachen Flügel schafften es nicht, ihn in die Lüfte zu erheben. Unermüdlich übte das kleine Tier, und jeder weitere gescheiterte Flugversuch stimmte den Mann etwas trauriger. Bald war ihm klar: Ohne zu fliegen, würde der Schmetterling nicht überleben können.

Voller Mitgefühl holte der Mann daraufhin ein Glas und las den Schmetterling behutsam auf, um ihn zu einem Biologen zu bringen. “Warum ist der Schmetterling mit so kurzen Flügeln geschlüpft und kann gar nicht richtig fliegen?”.

Der Biologe observierte den Schmetterling für einige Momente neugierig. Schließlich fragte er: “Sag, wie bist du zu dem Schmetterling gekommen?”. Darauf erzählte der Mann, wie er dem Schmetterling geholfen hat, aus dem Kokon zu schlüpfen.

Mit jedem Wort, was er erzählte, verzog sich mehr und mehr die Miene des Biologen, bis er stirnrunzelnd vor ihm stand. “Dem Schmetterling zu helfen, war gut gemeint. Und dennoch war es das Schlimmste, was du für ihn machen konntest”, stellte er fest. “Während ein Schmetterling schlüpft, wird durch den Druck der kleinen Kokonöffnung die Flüssigkeit im Körper des Schmetterlings in seine Flügel gedrückt. Wenn er das geschafft hat, kann er fliegen.

Dieser Schmetterling durfte nicht aus eigener Kraft aus seinem Kokon schlüpfen. Zwar hatte er eine leichte Geburt, seine Flügel sind jedoch zu schwach. Dieser Schmetterling wird niemals fliegen können. Erst die Anstrengung, seinen Kokon aus eigener Kraft zu verlassen, führen zu seiner ganzen Entfaltung”.


Frei nacherzählt basierend auf der Geschichte “The Lesson of the butterfly” von Paolo Coelho, adaptiert von einer Geschichte nach Sonaira D’Avila.

Von der Raupe zum Schmetterling?

Heute mal eine traurige Geschichte, für alle, die sich gerne in einem kleinem bisschen Herbstmelancholie suhlen. Krisen, Leid, Schmerz und Scheitern gehören aber einfach dazu, sind in gewisser Weise nicht nur Initiationsriten in die Spiritualität, sondern auch Feuerproben der Reife.

Endlich die Person werden, die man nie sein wollte

Wenn uns der Schmetterling eines zeigt, dann, dass erst unsere größte Anstrengung uns zu unserer vollen Entfaltung bringen kann. Wer im fleißigen Austausch mit seinen spirituellen Freunden ist, kennt ja bereits so einige Stories. Meist ist es die Erzählung einer oder mehrerer großer Krisen – Burn-out, Depressionen, Sucht, Dauerstress, Trennungen – die uns von unserem grünen Blatt mitten auf den Yogaweg katapultiert haben.

Lange Zeit hat das Leben einfach irgendwie funktioniert. Arbeit, Familie, Job – kein Problem. Dennoch hat uns eine tiefe Sehnsucht zu einer Veränderung gerufen. Nicht plötzlich, sondern ganz allmählich, bis selbst die Stursten unter uns Wachstumsschmerzen bekommen haben. Der Kokon ist zu klein geworden.

Bringt Yoga uns zur spirituellen Selbsterkenntnis? Das kann ich nicht beantworten, es liegt bisher nicht in meiner Erfahrung. Kann Yoga helfen, uns zu einem authentischen Selbstausdruck zu bringen? Mit Sicherheit. Das erste Mal seit langem kommen wir zur Ruhe und können fühlen, beobachten und erkennen, was wir brauchen. Nicht, was wir meinen, zu wollen: Was wir brauchen.

Und das kann absolut etwas ganz anderes sein, als das, was man bis dato gelebt hat. Wenn ich mich so zurückversetze in die Vergangenheits-Ich, dann beäugt sie die Gegenwarts-Ich mit großer Skepsis: zu wenig Status, zu blauäugig, zu idealistisch – aber glücklich.

Wachstum ist anstrengend

Schmerz und Wachstum gehen Hand in Hand. Wir wachsen an unseren großen Krisen, genauso wie an den kleineren Aufgaben und Herausforderungen. Kein Muskel wächst ohne vorangegangene Erschöpfung, jedes Immunsystem wird in unseren frühen Jahren mit jedem Infekt “trainiert”.

Das gilt im Übrigen auch für unseren Geist. Kinder erfahren oft noch überschwemmende und intensive Gefühle von Wut, Trauer, Angst und Enttäuschung. Erst mit der Zeit, Erfahrung und liebevoller Begleitung der Eltern werden sie geübter darin, entspannter mit Emotionen umzugehen (das können Erwachsene übrigens auch noch trainieren).

Wir halten fest: Wachstum ist anstrengend. Nicht immer können wir uns den Wachstumsschub aussuchen. Immer noch kein Grund, zu verzagen. Geh deinen Weg und tue dein Bestes. Anstrengung und Leid wird es immer geben, wir lernen nur besser damit umzugehen.

Krafttier Raupe: Wachse langsam und stetig

Nimm dir die Zeit für das, was du in dir verändern möchtest. Wir dürfen entspannt bleiben. Auch die Raupe in der Geschichte hat sich vorher ganz schön abgestrampelt und brauchte eben einfach mal eine Pause. Den Mann hingegen hat das wohl zu sehr frustriert – ein Mensch wie wir eben.

Was wir immer wieder vergessen: Für nachhaltiges Wachstum braucht es nach jeder Anstrengung Regeneration, Muße, Pausen, Nichtstun. Warum können wir das nicht mehr zulassen? Es liegt wohl im Zeitgeist unserer Gesellschaft beständig leisten zu wollen, unsere Müdigkeit in Kaffee und Geschäftigkeit zu ertränken und unsere Frustration in beständiger Aktivität. Wir rasen innerlich.

Yoga ist die Pause-Taste. Es ist die Entscheidung, aus dem Strom ständiger Unruhe auszusteigen. Müdigkeit, Stress, Frustration und Wut zuzulassen und anzunehmen. Erst in der Stille, in der Ruhe schöpfen wir neue Kraft. Hier wohnt das Krafttier Raupe, das langsam aber stetig vorankommt. Freue dich auf deine langsamen und schweren Raupentage, dann fliegt es sich umso leichter als Schmetterling.

Ist uns wirklich nicht mehr zu helfen?

Wie jede Geschichte ist auch diese begrenzt. In der Kürze liegt die Würze, aber eben auch die Ungenauigkeit. Der Mann wollte dem Schmetterling ja bei seiner Transformation helfen, hat ihn aber durch seine Hilfe auch schwach bleiben lassen.

Die Kraft der Autonomie

In gewisser Hinsicht ist das wahr. Nehmen uns unsere Eltern früh vieles ab, kann sich eine gewisse Unselbstständigkeit einschleichen. Und sind wir mit einem goldenen Löffel im Mund aufgewachsen, haben wir möglicherweise nie wirklich gelernt, was es heißt, auf etwas hinzuarbeiten und dabei Frustrationstoleranz sowie Durchhaltevermögen zu entwickeln.

Heute ist viel die Rede von Helikoptereltern, die möglichst jedes Hindernis ihrer Kinder aus dem Weg räumen wollen. Irgendwann im Leben kommen wir alle aber an einen Punkt, wo wir merken, dass es keine deus ex machina gibt, keine magische Rettung in letzter Stunde. Die Verantwortung für unsere Gefühle, Gewohnheiten und Handlungen tragen wir in letzter Instanz selber. Aus dieser Autonomie können wir sehr viel Kraft schöpfen.

Und das Geschenk der Verbindung

Dennoch ist der Menschen ein über alle Maßen soziales Wesen. Selbst an den Punkten in meinem Leben, in denen ich mich absolut allein gefühlt habe, stelle ich rückblickend fest, wie viel Unterstützung ich hatte – manchmal vergessen wir das.

Was ich damit sagen möchte: Du bist nicht die einzige Raupe auf deinem Blatt. Ich möchte hier eine Lanze für die Gemeinschaftlichkeit brechen, die in unserer Kultur leider immer mehr abhandenkommt. Finde andere einzigartige Raupen wie dich, denen du dich anvertrauen kannst und die dich auf deinem Weg begleiten und unterstützen – z. B. deine Familie, gute Freunde oder deine spirituelle Sangha.

Wir können viel allein schaffen, aber gemeinsam ist es einfach wärmer, schöner, erfüllender. Eine tiefe Freundschaft zu führen, in der man sich so zeigt, wie man ist und den anderen mit all seinen Facetten annimmt, ist für mich persönlich die höchste Form von Bhakti Yoga.

Ob du deinen Weg eher autonom oder gemeinsam in Verbindung mit anderen beschreitest, ist letztlich überhaupt kein Entweder-Oder: Wie so oft im Leben lohnt es sich einen goldenen Mittelweg zu finden.


Das sind meine Gedanken zu dieser Geschichte. Hast du noch etwas anderes herausgelesen? Lass mich gerne deine Gedanken dazu wissen! Und wenn du Lust auf ein wenig Veränderung hast, findest du in unseren spirituellen Gemeinschaften ganz viele andere Raupen, die gemeinsam den Weg der Selbsterfahrung beschreiten:

Om tryambakam.

4 Kommentare zu “Die Lehre des Schmetterlings: Alles braucht seine Zeit

  1. Sehr schöne Geschichte. Ich bin im Moment auch an einem Punkt in meinem Leben, in dem ich mich alleine fühle und mir Yoga hilft zu meiner inneren Mitte zu kommen.
    Vielleicht ist man wirklich nicht die einzige Raupe auf dem Blatt aber es ist schwer andere Raupen zu finden,die den gleichen Weg gehen.Doch diese Geschichte gibt mir Mut,dass es vielleicht doch noch nicht zu spät ist und es Zeit braucht.
    Danke Om Shanti

    • Om liebe Tanja, ich fühle zutiefst mit dir. Das Gefühl alleine zu sein kenne ich sehr gut. Ich wünsche dir viel Mut, Kraft und ganz viel Liebe auf deinem Weg.

  2. Danke für diesen wunderbaren Text, ich nehme viel mit.

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